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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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weiß nicht, ob ich die beiden schon hörte, als ich auf dem Flur vor der Wohnungstür
     stand und aufschließen wollte. Meine Mutter arbeitete um diese Zeit normalerweise, ich wollte nur kurz rein und gleich wieder
     gehen. Aber als ich in die Wohnung kam, roch ich sofort, dass etwas anders war. Der Geruch war mir nicht dadurch unangenehm,
     dass er fremd war. Er verstörte mich deshalb, weil er nicht zu meinem Leben gehörte, zum Leben eines zwölfjährigen Jungen.
    Es roch nach Bett und Wärme, nur viel intensiver, es roch nach Schweiß und Körper, aber das vergaß ich sofort. Meine Mutter
     stand am Fenster und schaute mich überrascht an, ihr Kollege kam gerade aus dem Bad und hatte ein sehr rotes Gesicht, stärker
     noch als sonst, wenn er nur zu viel Wein getrunken hatte. Ich wusste von den beiden, ohne dass ich es wissen wollte.
    Ich ging in mein Zimmer, setzte mich auf mein Bett, meine Mutter kam herein und fragte, ob ich etwas vergessen hatte, ich
     stand auf und holte meine Fußballschuhe aus dem Schrank, ich sagte etwas zu ihr und schaute dabei an ihr vorbei.

    »Schuhe gekauft«, das ist der letzte Eintrag, am 22. August, in dem kleinen roten Kalender mit dem Plastikeinband, auf dem
     in goldener Schrift 2006 geschrieben steht.
    Ich ging die Sonnenstraße entlang und schob den leeren Rollstuhl vor mir her, den ich für sie besorgt hatte, versuchte, ihn
     mit einer Hand zu schieben, versuchte, ihn zu kippen, versuchte, ob ich rechts an dem Straßenschild vorbeikam, aber der Rollstuhl
     war zu breit, also zog ich ihn wieder zurück und ging links um das Schild herum. Die Sonne schien warm und gut auf München
     herab, meine Mutter wartete auf der Terrasse und ich tat etwas, das nützlich war. Es war ein Gefühl, als ob es weitergehen
     könnte.
    Sie stand auf, als sie mich sah, ich schob den Rollstuhl zu ihr durch den Garten, sie lachte ins Nichts und hielt sich mit
     der Hand am Tisch fest. Sie stand gebeugt und wackelte etwas hin und her, sie trug eine beige Hose, ich konnte sehen, wie
     dünn ihre Beine geworden waren, und es tat mir weh, das sehen zu müssen. Sie freute sich über diesen Rollstuhl, auch wenn
     sie ihn nicht in der Wohnung haben wollte. »Das schaut aus wie im Krankenhaus«, sagte sie, also stellte ich den Rollstuhl
     in den Gang vor ihre Wohnung.
    »Ich bin ganz überrascht«, sagte sie, »das ist doch toll, dass die mir alle helfen wollen.«
    Sie hatte das nicht erwartet, und jetzt, wo es passierte, rechnete sie immer noch damit, enttäuscht zu werden. Sie hielt etwas
     zurück, bis zuletzt, was manche Menschen irritierte. Es war etwas in ihr, an das niemand herankam und das auch niemand antasten
     durfte. Und wenn es doch einmal geschah, dass jemand diesen Grund der Angst berührte, dann war sie entschiedenund unversöhnlich. Es konnte ein Satz sein, einfach so dahingesprochen, und schon war eine Freundschaft, die gut und kräftig
     schien, dahin.
    »Das lohnt sich doch nicht mehr«, das war so ein Satz, eine Freundin hatte ihn gesagt, als sie über ein Bild oder über Kissen
     oder über Geld gesprochen hatten, richtig verstanden habe ich das nie, als meine Mutter mir davon erzählte. Für sie klang
     dieser Satz jedenfalls wie »Du wirst eh bald sterben«, und jeder Mensch, der diesen Satz im Gesicht trug, wurde von meiner
     Mutter aussortiert. Ende Juli hatte sie noch mit dieser Freundin gefeiert, mit Blumen und Schokolade, sie kannten sich an
     diesem Tag genau ein Jahr, und was in dieser Zeit entstanden war, überraschte sie genauso sehr wie mich. Ich war froh, dass
     es diese Frau gab, die meiner Mutter half, sich in einem Leben zu arrangieren, das nicht mehr von dem Glauben an Genesung
     getragen wurde.
    Es war ihre Unbedingtheit gewesen, die diese Frau an meiner Mutter fasziniert hatte, ein Wesenszug, der sich jetzt mehr und
     mehr gegen sie selbst richtete, je schlechter es ihr ging, je mehr sie spürte, dass sie nicht mehr der Mensch sein konnte,
     der sie immer hatte sein wollen. Sie merkte wohl, dass diese Frau ihr nicht mehr helfen würde, die Hoffnung zu erhalten, die
     sie mit dem Leben verband. Die Krankheit zog meine Mutter langsam fort.
    Anfang September fing sie an, die Schlüssel einzusammeln, die sie ihren Freundinnen gegeben hatte. Sie wollte kontrollieren,
     wer in ihre Wohnung kam, weil sie denEindruck hatte, dass ihr auch das zu entgleiten drohte. Sie legte einen Schlüssel auf den Tisch auf der Terrasse, für die
     Pflegerinnen und auch für Freundinnen,

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