Der Tod meiner Mutter
die sie sehen wollten. Als sie dann aber die Frau besuchen wollte, die den Satz gesagt
hatte, der meine Mutter so verletzte, war kein Schlüssel da und der Vorhang zugezogen und niemand reagierte, als sie ans Fenster
klopfte. Später an diesem Tag kam sie noch einmal vorbei, da öffnete ihr eine Pflegerin die Tür und erklärte, meine Mutter
habe sie gebeten, ihr auszurichten, dass sie sie nicht mehr sehen wolle.
Ein Satz hatte gereicht. Über ihre Ängste wollte sie nicht reden, nicht mit mir und nicht mit ihren Freundinnen. Über den
Tod hat sie nicht gesprochen und auch nicht über die Krankheit, sie hat sie lange behandelt wie ein Haustier, diesen Satz
sagte Doktor Koschine nach ihrem Tod, wie ein Haustier, mit dem sie lebte, mit dem sie sich fast angefreundet hatte, wie mit
einer der Katzen, die wir früher hatten. Und als das Haustier, das ihr Krebs war, irgendwann zu jenem Raubtier wurde, das
andere so viel schneller und auch so viel grausamer fortreißt, da wollte sie diese Veränderung nicht in Worte fassen.
Für ihre Freunde war das nicht einfach. Sie mochte keine Feiglinge. Und als sie merkte, wie schwach, wie abhängig sie wurde,
da war sie vor allem wütend, aufs Sterben, auf sich, auf alle.
Sie fing an, sich von Menschen zu trennen, die, wie sie sagte, schlecht für sie waren. Sie fing an, die Menschen, die ihr
helfen wollten, gegeneinander auszuspielen, siezu benutzen, sie zu manipulieren – also die Distanz, die sie selbst um sich trug, zwischen andere zu schieben. Manchmal wollte
sie niemanden im Haus haben; manchmal beschwerte sie sich, weil niemand da war, den ganzen Tag. Manchmal fühlte sie sich fremdbestimmt;
manchmal fühlte sie sich verlassen. Manchmal vermisste sie Menschen; manchmal misstraute sie ihnen.
Stur und eigensinnig war sie schon immer gewesen. Mit der Krankheit kam noch etwas anderes dazu. Es war, als habe sie jetzt,
da sie nicht mehr stark war, Angst davor, zu viel preiszugeben, sich zu sehr zu öffnen, mehr jedenfalls, als sie kontrollieren
konnte.
Am letzten Samstag, einen Tag vor ihrem Tod, war ihre alte Freundin Elfi bei ihr zu Besuch und saß neben ihr auf dem Bett
und streichelte ihre Hand. Meine Mutter hatte die Augen geschlossen, sie ließ es zu, vielleicht mochte sie es sogar.
Dann schlug sie die Augen auf, sah Elfi an und sagte: »Was machst du da?«
Und zog die Hand weg.
Ich hatte das Handy auf den Tisch gelegt und auf stumm gestellt. Jetzt vibrierte es, es war meine Mutter. Sie hatte schon
zweimal angerufen, ich hatte eine Besprechung, ich sagte irgendetwas zu den Leuten im Zimmer und ging hinaus auf den Gang
und dann auf den kleinen Balkon, von dem aus ich den Steingiebel des alten Museums sehen konnte, weil das Haus nebenan noch
nicht fertig war, das bald den Blick verstellen würde.
»Ja?«
Es war etwas, irgendetwas, es war manchmal egal, es ging nur noch um diesen Kontakt, gar nicht um die Worte, sie atmete ins
Telefon, ich stand da und die Hand war so schwer, ich musste mich konzentrieren, damit ich verstand, was sie sagte, damit
ich verstand, warum es mir so schwerfiel, freundlich zu ihr zu sein. Ich stieß mit dem Fuß gegen das Geländer, sanft erst
und dann fest und immer fester. Das Geräusch war wie ein Echo.
»Soll ich kommen?«
Ich war am Tag davor am Wannsee bei einer Taufe gewesen. Ich war in den Tagen danach in Portland und Los Angeles und New York.
Ich besuchte einen gut gelaunten Schriftsteller und fuhr mit ihm zu seinem Haus, das einmal einer christlichen Sekte gehört
hatte und wo er jetzt in großen Kartons Plastikpenisse aufbewahrte, die er für seine Performance brauchte. Ich hatte Lunch
mit einem stillen Schriftsteller, der mir von seiner Frau erzählte und seiner Jugend als Tennisspieler und der sich ein paar
Jahre später umbrachte. Ich lief hinter einem schwitzenden Schriftsteller her, der mir das Hochhaus zeigte, wo seine Großmutter
gewohnt hatte, die nur Russisch sprach und ihn gemästet hatte, bis er so dick war, dass er sich selbst hasste. Dann war ich
in London, um mit einem Kunstkurator über Mode zu sprechen, und einen Tag später in München, um die Mutter eines Galeristen
über ihre Vorstellung von Familie zu befragen. Ich sah meine Mutter an diesem Tag, eine Stunde oder zwei, dann fuhr ich wieder.
Ich hatte sie ja gesehen.
»Soll ich Elfi anrufen?«
Seit Anfang August kam zweimal in der Woche vormittags eine Frau vom Pflegedienst vorbei, um sie zu waschen. Mal
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