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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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musste bei ihr sein,
     deshalb war ich hier auf dem Sofa, und ich sah sie, wie sie hilflos am Boden lag, wie ein Käfer, der mit den Beinen in der
     Luft zappelt.
    »Heiner Schorsch.«
    Seit Mitte September kam jeden Tag gegen neun Uhr eine Pflegerin vorbei, die meine Mutter wusch und ihr manchmal etwas Tee
     und einen Toast zum Frühstück brachte. Seit Mitte November kam auch nachmittags eine Pflegerin, die ihr beim Essen half, die
     ihr die Wäsche machte, die roten Handtücher wechselte und die roten Bettlaken und die roten Waschlappen und sie dann auf den
     Wäscheständer hängte, der im Schlafzimmer stand, rote nasse Wäsche, neben den zwei Schreibtischen, auf denen sich die Post
     stapelte, angehaltenes Leben, Leben, das auf den Tod zu warten schien, denn dann erst konnte es weitergehen, das wusste ich
     noch nicht.
    »Heiner Schorsch.«
    Ich spürte die Zeit und dachte an nichts. Ich war seltsam erregt, ich konnte nicht schlafen, ich überlegte, ob ich aufstehen
     sollte, ich blieb liegen, ich hätte zu ihr gehen können in ihr Zimmer und hätte neben ihrem Bett stehen können, ich hätte
     sie ansehen können, damit ich sie nicht verliere, damit sie bleibt, selbst wenn sie geht; ein Abdruck nur. Aber ich blieb
     liegen. Wie müde ich war.
    »Heiner Schorsch.«
    Ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Aber wie konnte das sein? Ihre Schritte waren schwer, ihre Haut war kühl,
     sie war da, wenn sie wach war, und fern, wenn sie schlief. Selten habe ich so gut verstanden, was das Wort Mutter bedeutet,
     wie in den Momenten,als ich sie berührte, wenn ich sie hielt, ihre Hand, ihren Arm, Körper und Körper, Gewicht und Gewicht, Leben und fast nicht
     mehr.
    »Heiner Schorsch.«
    Wir versuchten, die Tage zu organisieren, und jeder Tag war wie ein Rätsel. Was wussten wir damals? Wir alle, meine Mutter,
     Doktor Koschine, die Pflegerinnen, die Freundinnen, ich, wir waren isoliert, wie im Inneren eines Waggons, der sich bewegt,
     aber wir dachten, dass nicht der Waggon sich bewegt, sondern die Landschaft, die vorbeizieht. Wir kannten unsere Handgriffe,
     wir vertrauten der Routine, wir waren froh, dass wir sie hatten, die einzelnen Dinge, aus denen sich ein Tag zusammensetzt,
     und jeder neue Tag war ja ein Sieg, ein kleiner Sieg, ein Rätsel, das wir zusammen gelöst hatten.
    »Heiner Schorsch.«
    So hatte sie mich genannt, als ich klein war. Ich setzte mich auf. Das Sofa quietschte. Sie war wach, vielleicht eine ganze
     Weile schon. Ich würde aufstehen und zu ihr gehen. Ich würde ihr über den Kopf streichen und sie fragen, wie es ihr geht.
     Ihr Haar wäre weich, ihr Kopf wäre rund und schön, ihre Augen wären kaum zu sehen, obwohl sie so sehr schauten, so sehr. Ich
     würde sie bei der Hand nehmen und Angst haben, zu sehr daran zu ziehen. Ich würde hoffen, dass sie nicht fällt. Ich würde
     ihr Gewicht spüren. Ich würde sie auf die Toilette begleiten. Ich würde ihr helfen. Ich würde da sein.

    Einatmen, ausatmen. Warum war ich in einem Zimmer mit diesen Menschen? Sie lagen auf dem Boden oder lehnten an der Wand, an
     grünen Hüpfbällen. Alle hatten die Schuhe ausgezogen. Ich sah Socken. Ich versuchte nicht einzuschlafen.
    »Es ist in Ordnung«, hatte Doktor Koschine gesagt, »fahren Sie ruhig nach Berlin«, hatte er gesagt, »erholen Sie sich etwas«,
     hatte er gesagt, »das war ja auch alles nicht einfach für Sie. Kümmern Sie sich um Ihre Frau. Ihre Mutter ist bald wieder
     zu Hause. Auf ein paar Tage kommt es nicht an. Machen Sie sich keine Sorgen.«
    Drei Tage war ich da gewesen, in München, im Krankenhaus, wo sie lag, weil es klang wie ein verstopfter Wasserboiler, wenn
     sie atmen wollte; jetzt war ich wieder in Berlin, es waren noch sechs Wochen bis zu dem Termin, an dem das Kind kommen sollte,
     das meine Mutter die rosa Prinzessin nannte. Ich starrte an die Decke und an die Wand und den Menschen auf die Socken, die
     hellrot waren und etwas ausgewaschen.
    Meine Frau saß neben mir auf dem Boden auf einer blauen Matte und hörte sich an, was alles schiefgehen konnte, wo ein Baby
     überall stecken bleiben konnte, wie sperrig die Knochen an den entscheidenden Stellen waren, was für schreckliche Schmerzen
     sie würde erdulden müssen. Der Körper als Problem. Der Körper als Feind.
    Und wo wardas Kind? Es war hier, im Bauch, direkt neben mir und doch noch nicht ganz. Und wo war meine Mutter? Sie war dort, im Bett,
     sehr weit weg und bald noch weiter. Ich schloss die Augen

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