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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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sein.
    Ruhe ist etwas anderes.
    Stille ist für immer.
    Im Taxi auf dem Weg in die Stadt dachte ich daran, was ich nun machen sollte, wie es weitergehen würde. Ich hatte noch den
     Blick meiner Mutter im Kopf, die Augen, die mich ansahen, als ich sie im Krankenhaus besuchte, die Worte, »Du hast es mir
     doch versprochen«. Sollte es wieder das Krankenhaus sein, war das die einzige Option?
    Ich war schon fast da, das war ihr Viertel, das waren ihre Straßen, hier lag sie, in ihrem Bett, in ihrer Wohnung, davor der
     kleine Garten.
    Dann klingelte das Handy.
    »Herr Diez«, sagte Doktor Koschine. »Es tut mir sehr leid. Ich weiß, Sie sind schon auf dem Weg. Sind Sie schon in München?
     Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht übermitteln. Ihre Mutter ist gerade verstorben. Die Pflegerin, die bei ihr war, hat
     mich angerufen.«

    Was da passierte, in diesem Moment, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich an kein Gefühl erinnern, an keinen Gedanken, ich kann
     mich nicht erinnern, was ich zu Doktor Koschine gesagt habe. Ich kann mich nur an ein Bild erinnern, an das ich mich immer
     erinnere, wenn ich an diesen Augenblick denke. Es ist der Blickaus dem Taxifenster, und ich sehe die ewig gleiche Straßenecke, eine seltsam geknickte Kurve in den engen Münchner Altstadtstraßen,
     nicht weit weg von der Wohnung meiner Mutter, ein paar Autos parken dort, eines davon ist rot, ein anderes ist weiß, Bäume
     stehen dort, eine Häuserfassade, die gelblich gestrichen ist und eine Reihe von Fenstern hat, die nicht beleuchtet sind. Es
     ist hell, was nicht sein kann, denn es war gegen sieben Uhr am Abend. Ich sehe auch, dass hinter mir ein Lokal ist, das ich
     kenne, aber dessen Name mir nie einfällt; ich weiß nur, dass vor dem Lokal eine rot-weiße Markise hängt.
    Ich kann also hinter mich schauen, als hätte ich hinten Augen. Ich sehe mich gleichzeitig selbst, wie ich da im Taxi sitze
     und aus dem Fenster schaue und auf das rote Auto und das weiße Auto und die Bäume und die Mauern, ich schaue genau in die
     Richtung meiner Mutter, einhundert Meter nur, und wenn ich einen Röntgenblick hätte, dann würde ich sie jetzt sehen, wie sie
     in ihrem Bett liegt.
    Ihr Körper jedenfalls.

    Ich habe an der Tür gewartet, ich wollte es hinausschieben, die Begegnung, den Verlust, das stumme Gesicht.
    Ich habe gezögert.
    Oder habe ich nicht gezögert?
    Bin ich schnell aus dem Taxi gestiegen?
    Oder habe ich erst einmal die kalte Winterluft eingeatmet?
    Habe ich auf der Straße gestanden und die Autos angeschaut?
    Habe ich auf den schmutzig weißen Putz ihres Hauses gestarrt?
    Habe ich in den Hof hineingeschaut, um zu sehen, ob in ihrem Fenster Licht brennt?
    Habe ich gedacht, sie könnte noch dort sitzen, auf der Terrasse, mit ihrer schwarzen Jacke und einer Decke um die Füße und
     auf dem Kopf die rosa Fellmütze, die ich ihr doch geschenkt habe, mit einer Sonnenbrille, obwohl es schon dunkel ist, und
     einem Lächeln auf den Lippen, ich habe nicht umsonst gewartet, endlich?
    Hallo?
    »Heiner Schorsch.«
    Einmal noch.

    Die Frau, die mir entgegenkam, hatte ich noch nie gesehen. Sie war ziemlich klein, ihre Haare waren blond gefärbt, das konnte
     ich deutlich sehen. Sie sagte etwas, dann zog sie ihre Jacke an und war verschwunden.
    Die Wohnung war dunkel. Nur im Zimmer meiner Mutter brannte Licht. Nur an ihrem Bett brannte Licht.
    Die Lampe war zur Seite gedreht, sodass ihr Kopf wie ein Schatten auf dem Kissen lag. Ihr Mund war ein wenig geöffnet, wie
     zu einem leisen Schrei, ihre Augen waren geschlossen, sie wirkte überrascht, sie wirkte nicht friedlich und war es auch nicht.
    Ich beugte mich über sie, ich setzte mich auf den Stuhl.
    Ich sprach mit ihr, ich sagte ihr Dinge.
    Dann stand ich auf und fasste sie an, berührte ihre Wange, um zu sehen, wie sich das anfühlt.
    Ich setzte mich auf den Boden, schob den Stuhl weg, der zwischen uns stand, und lehnte mich an die Wand, um zu sehen, wie
     sich das anfühlt.
    Ich stand auf und ging durch die Wohnung wie durch die Welt, um zu sehen, wie es sich anfühlt, wenn man allein ist.
    Ich ging in die Küche und goss mir ein Glas Wasser ein.
    Ich ging wieder in ihr Zimmer und stellte mich ans Bett und starrte sie lange an.
    Die Haut ihrer Wange war nicht warm und nicht kalt.
    Ich legte die Hand wieder auf ihre Wange und ließ sie dort liegen, ich nahm sie langsam weg und spürte, wie die Haut etwas
     an meiner hängen blieb, als wolle sie mitkommen, als wolle sie nicht weggehen.
    Ich

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