Der Tod meiner Mutter
verschiedene Wahrheiten gab, die der Kranken und die der Gesunden, und ich lernte, dass es nur wichtig
sein konnte, was wahr war für sie, weil es das Einzige blieb, was sie hatte, ihre Wahrnehmung; so reagierte ihr Körper, so
reagierte ihr Geist, sie schuf sich diese Wahrheit, und wenn sie sich verirrte, war es egal. Auch im Trug fand sie Halt.
Ich lernte, langsam zu sein, langsamer noch, als ich es schon war mit ihr. Ich sah ihr zu, wie sie aß, und verwechselte meine
Geduld mit Mitleid. Ich nahm ihre Hand und maß einen Schritt und noch einen, und die Zeit, die jeder ihrer Schritte dauerte,
war gewonnene Zeit. Ich erzählte ihr ausführlich von Dingen, die ich schon einmal erzählt hatte, und dann sagte sie auf einmal:
»Aber das weiß ich doch schon.«
Ich lernte, dass es nichts gibt, was einen überraschen kann, denn alles ist neu, alles ist schrecklich und doch normal beim
Sterben. Jeder Satz wie das erste Mal, jeder Gedanke, jeder Handgriff, jeder Blick. Wie sie schaute, als ich sagte, wir würden
ein Kind bekommen. Wie sie schaute, als sie mir sagte, sie würde uns Geld geben für die Wohnung. Wie sie schaute, als sie
mir erzählte, sie könne Bachs Musik nicht mehr hören. Das erste wie das letzte Mal. Ihre Hand, die immer trocken war und feucht
zugleich.
Ich fasste sie an, und ich fasste sie gerne an; auch ich brauchte Beweise, dass sie noch da war. Auch ich wollte spüren, was
das Leben war. Auch ich ging durch ihr Viertel, mit den Einkäufen, die schwer waren, und ich mochte das Gewicht der Einkäufe
in meiner Hand.
Ich ging durch den Garten und schaute auf die Pflanzen, weil sie diese Blumen und Büsche und Bäume gepflanzt hatte und gegossen
und geschnitten. Ich ging durch die Wohnung und achtete auf das Licht, das durch die Fenster fiel, und wie es sich veränderte,
wie es harte Schatten warf, wenn es Mittag war, und wie es weich wurde und milchig, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob,
weil es das Licht war, das meine Mutter sah. Ich ging in die Küche, wo es nach den Äpfeln roch, ich sah die Wasserflaschen,
die auf dem Boden standen, ich schaute in den Kühlschrank, der leer war, ich atmete die Luft, die weniger wurde.
Ich ging in ihr Zimmer und setzte mich hin und wartete, und die wenigen Worte taten weh, weil es sowenige waren, und sie taten gut, weil es überhaupt noch Worte waren.
Wir waren in eine andere Zeit eingetreten, und wir wussten es beide.
Es gibt einen Vertrag, vom 14. November 2006, mit Bleistift geschrieben, in ordentlichen runden Buchstaben und von meiner
Patentante unterzeichnet. Darin wurde geregelt, dass die Pflegerin Silvia, die jung und fröhlich war und die meiner Mutter
die Hand auf die Schulter legte, als seien sie beste Freundinnen, dass Silvia von Montag bis Freitag zwischen 13 Uhr und 15 Uhr
kommen sollte, um einzukaufen, zu kochen, die Küche zu machen und alles, was nötig war. Außerdem stand in dem Vertrag, dass
mit der Firma Wallner die Lieferung eines Pflegebettes vereinbart wurde, das am 18. November gegen 17 Uhr geliefert werden
sollte, ein Freund würde da sein, um das alte Bett meiner Mutter abzubauen und im Keller zu verstauen, auch das stand in dem
Vertrag.
Der Vertrag ist eineinhalb Seiten lang; auf die zweite untere Seite hat meine Mutter geschrieben, sehr wackelig, in roter
Tinte: »Dieser Text ist mir falsch von Gusti vorgelesen worden: richtiger Text hier oben von ihrer Handschrift: eine der vor
vorhandenen vorherigen Bananen hatte ich aus dem Eisschrank und vor Hunger aufgegesssenen Bananenen in die Tüte getanene Tüte
(Plastiktüte) in meinem Zimmer versteckt. Der Text dazu wurde weder von Gusti noch von nur vorgelesen,auch der Text nicht von Gustis Rolle und meiner Rolle davon einer Kopie davon in meinem Zimmer auf dem Boden u. im Eisschrank
an der Küchenwand mit d. richtigen Kalenderdatum (14.11.06) nicht.
14.11.06 H. Diez«
Einatmen, ausatmen.
Ihre Wut steigerte sich, je näher der Tod rückte. Ihre Wut kam und ging, mit den Tagen. Ihre Wut war ein Gradmesser. Ihre
Wut zeigte, dass sie noch da war, dass sie kämpfte, dass sie nicht gehen wollte. Ihre Wut, die sie so lange begleitet hatte,
war die Kraft, die ihr blieb.
Mal war sie hart und unnahbar, in diesen letzten Wochen im Herbst, dann wieder weich und verloren. Die Verzweiflung, vor der
sie ihr Leben lang davongerannt war, holte sie jetzt wieder ein. Sie sagte nicht viel, aber ich sah es, wenn ich schweigend
neben ihrem
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