Der Tod meiner Mutter
es war ein weiter Weg, und ich ging in ihr Zimmer und es war ganz nah. Ich fasste nichts an und schaute auch nichts an,
ich war nur da, weil sie da war, und die Frage blieb, wer ich sein würde, wenn sie ganz fort war.
Aber als es dann so weit war, da war auch das anders und einfacher und komplizierter zugleich. Um zehn Uhr morgens parkte
der Wagen des Bestattungsinstituts in der Einfahrt zum Hof, zwei Männer kamen mit einem hellen, leeren Sarg und stellten ihn
ins Wohnzimmer und fragten, was sie meiner Mutter anziehen sollten, ein kleiner Mann mit einem schiefen Gesicht und ein großer,
der gar nichts sagte und Hände hatte wie ein Hundemörder. Der kleine Mann hatte an der rechten Hand nur einen Finger und stotterte.
Sie verschwanden im Zimmer meiner Mutter und schlossen die Tür, meine Frau und ich gingen auf die Terrasse, und als wir nach
fünf Minuten wieder durch die Glastür in die Wohnung kamen, lag meine Mutter in dem Sarg und sie war wie eine Fremde und war
vertrauter als je. Sie lag dort, die Hände gefaltet und das Haar matt und die Wangen hohl, und sie hatte die leichte, elegante
Jacke an, die sie so mochte und die sie auch bei meiner Hochzeit getragen hatte. Gelb war die Jacke, von einem tiefen, durchscheinenden,
dauernden Gelb.
Der eine der Männer, der nicht stotterte, fragte, ob sie den Sarg schließen dürften, ich nickte und das Gesicht meiner Mutter
verschwand. Sie wollten den Sarg schon anheben, da bat meine Frau, dass sie den Sarg noch einmal öffnen sollten. Sie ging
hinaus in den Garten und kam zurück und legte eine Rose hinein, dann machten die Männer den Sarg wieder zu und hoben ihn an
und schwankten etwas, weil der eine zu schnell aufgestanden war, und es machte ein leises Geräusch, als ob zwei Holzkugeln
aufeinanderstoßen, eine große und eine kleine, aber das war auch schon egal.
Auch dieser Tag war hell und klar, es strahlte immer noch die gleiche kalte Sonne auf die Stadt herab, es war immer noch Dezember
und meine Mutter war immer noch tot. Meine Frau und ich fuhren langsam auf den Friedhof zu, der grau unter diesem großen Himmel
lag, am nördlichen Rand von München, nicht weit vom Ungererbad, wo sie so oft geschwommen war, nicht weit vom Aumeister, wo
sie so oft im Biergarten gewesen war, direkt am Englischen Garten, der so sehr Teil meiner Kindheit ist.
Sie standen schon dort, wie ausgeschnitten in ihren schwarzen Mänteln, ein paar der Menschen, vor denen ich mich ein wenig
gefürchtet hatte, gefürchtet ist ein zu starkes Wort, aber ich wusste nicht, wie es sein würde, meine Traurigkeit mit noch
mehr Menschen zu teilen. Sven stand da, mein Cousin aus Bremen, und Wolfgang, der Bruder meiner Mutter. Ich sah eine Frau
aus der Gemeinde in Oberföhring, die meine Mutter sicher 30 Jahre nicht gesehen hatte. Ich sah meinen Cousin Rudolf, ich sah
Hartmut, den alten Freund meiner Mutter, und seine Frau Christel und ihren Sohn David, meinen Freund aus der Kindheit, ich
sah Wolf, den meine Mutter vor vielen Jahren einmal geliebt hatte, ich sah Daniel und Paula und meine Schwiegereltern, ich
sah einige, die ich mochte, und einige, die ich nicht kannte und die sich später vorstellten und deren Gesicht ich gleich
vergaß. Es waren Schattenrisse eines Lebens, die da im grellen Licht warteten, und die Schritte, die ich machte, vom Auto
auf sie zu, waren einer und dann noch einer und dann noch einer, und als ich die ersten Menschen umarmte, da war es besser,
als ich gedacht hatte.
Wir standen an der Straße und warteten, und hier kam jemand und dort und ich sagte »Hallo« und sie schauten ernst und manche
schauten auch nicht ernst und freuten sich, dass sie hier waren, und auf dem grauen Bürgersteig warteten sie zusammen, und
wie sie so gemeinsam warteten, hatte das vielleicht sogar eine Bedeutung. Dann gingen wir hinein, in diese große, unausweichliche
Halle, alles aus Stein und alles kalt imWinter und wohl auch im Sommer und der Boden ein Mosaik und die Kuppel der Himmel und der Sarg mit ein paar Blumen geschmückt,
aber nicht mit Trauerkränzen, die so schwer sind, viel schwerer, als sie sein sollten.
Denn so schwer ist es ja gar nicht, so schwer musste es gar nicht sein, das merkte ich, als erst Händel erklang und dann Benjamin
Biolay, »Last night I had a dream«, und als ich mich hinstellte und ein paar Worte sagte, die für sie waren und auch für mich,
Worte des Abschieds, die mir mehr erklärten als ihr, die
Weitere Kostenlose Bücher