Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
Betreuung, obwohl sie gar nicht direkt betroffen waren. Hendrik war natürlich mit den Nerven völlig am Ende, und soweit mir bekannt ist, hat er später noch lange Psychopharmaka nehmen müssen.
Ich selbst blieb, nach dem anfänglichen Schock, relativ ruhig. Meine Rolle in dieser Tragödie war mir völlig klar. Ich hatte meinen besten Freund umgebracht, aber die Schuld gab ich nicht mir allein.
Als der Fall von der Polizei abgeschlossen wurde, wurde er eindeutig als Unfall klassifiziert. Die Lehrer bekamen eine Abmahnung wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Von diesem Zeitpunkt an wurde festgelegt, dass Sportarten wie Speerwurf nicht mehr trainiert werden durften, wenn sich parallel dazu noch andere auf dem Platz befanden. Nicht, dass irgendwer überhaupt noch Lust hatte, Speerwurf zu trainieren.
Weder gegen Hendrik noch gegen mich wurden Vorwürfe erhoben. Nicht vonseiten der Justiz zumindest. Bei Schülern, Lehrern und Eltern sah das ganz anders aus. Meine lieben Mitschüler hatten alle bestätigt, dass zwischen Gerrit und mir während des Laufs ein Streit ausgebrochen war, der dann zu dem „Unfall“ führte. Man zwang mich, einen Psychiater aufzusuchen, der beurteilen sollte, ob meine Aggressivität gegenüber Gerrit auf dem Sportplatz eine Gefahr für andere wäre. Dumm, wie ich war, erzählte ich, dass ich Gerrit vor dem leibhaftigen Tod hatte bewahren wollen. Das brachte mir ein paar Lacher ein und die Diagnose, dass ich eine rege Phantasie habe. Der Psychiater fand jedenfalls, dass ein imaginärer Freund in meinem Alter vielleicht etwas ungewöhnlich, ich aber ansonsten ein relativ normales Kind für mein Alter wäre. Einige der Eltern sahen das allerdings anders. Etliche wollten ihre Söhne und Töchter nicht mit dem „Killer-Kind“ in einer Klasse wissen, und so wurde meinen Eltern nahegelegt, dass ich doch die Schule wechseln sollte.
Ein paar Tage lang dachten meine Eltern darüber nach, ob wir woanders hinziehen sollten, irgendwohin, wo keiner wusste, was vorgefallen war. Aber meine Mutter wollte sich keine neue Arbeit suchen, und mein Vater wollte das ohnehin lieber aussitzen, schließlich fand er nicht, dass ich etwas Falsches getan hätte. Also wurde diese Idee verworfen, und ich kam lediglich an eine neue Schule. Mitten in meinem dritten Schuljahr hatte ich also das zweifelhafte Vergnügen, mich an eine neue Umgebung gewöhnen zu müssen. Lag die alte Schule lediglich fünf Minuten zu Fuß von daheim entfernt, durfte ich jetzt jeden Morgen knappe 30 Minuten laufen. Das war zwar weniger bequem, aber nicht mein Hauptproblem. Da wir nicht umzogen, waren die Schüler und Lehrer an der neuen Schule verständlicherweise nicht völlig darüber im Unklaren, warum ich dort war. Ich musste mir nicht so viele dumme Sprüche wie an meiner alten Schule anhören, es war aber trotzdem schwierig, neue Freunde zu finden.
Noch schlimmer als mein Mangel an sozialer Interaktion war der wütende Sturm, der in Form von Gerrits Mutter über uns hereinbrach. Sie drohte meinen Eltern, dass sie uns verklagen würde, bis wir nur noch am Bahnhof Zoo um Almosen betteln könnten. So ihre blumigen Worte, die immerhin nicht darauf hinausliefen, dass sie mich verhexte, was ich zunächst befürchtet hatte.
Zum Glück für meine Eltern, wenn auch nicht für mich, hatte sie sich nicht unter Kontrolle. In der Zeit zwischen Unfall und Schulwechsel lief ich ihr über den Weg, als sie gerade zur Direktorin wollte, um dort erneut Stimmung gegen mich zu machen. Sofort brüllte sie mich an, dass ich ihren Sohn getötet hätte. Ich entgegnete, dass dies stimme und mir dies auch sehr, sehr leidtue. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug sie mir derart heftig ins Gesicht, dass ich ein paar Meter durch den Raum segelte, direkt in einen Glasschaukasten. Es war eine derartig imponierende physikalische Leistung dieser recht schmalen Person, dass ich noch Jahre davon überzeugt war, dass es doch mit Hexerei zugegangen sein musste.
Zwei Lehrer, die zufällig auf dem Gang standen und Zeugen ihres Angriffs wurden, hielten sie daraufhin fest, um sie daran zu hindern, mir noch mehr anzutun. Ein Rechtsstreit stand danach nicht mehr zur Debatte und wenn, dann höchstens gegen sie.
Ab und an sah ich sie noch zufällig auf der Straße, allerdings hielten sowohl sie als auch meine Eltern gebührend Abstand. Einige Zeit nach dem Vorfall, bei dem sie mich geschlagen hatte, wurde innerhalb von ein paar Wochen immer wieder mal das Auto
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