Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
Vom Netzwerk:
irgendwie davon abhalten zu laufen.“
    Marwig schaute argwöhnisch zu mir herüber, während ich zur Startposition neben Gerrit ging, der mich ebenso beäugte. Die Warnungen, die Tod mir nachbrüllte, hörte ich nicht. Wollte ich nicht hören.
    Marwig pfiff. Wir liefen los. Die Oberschüler sammelten gerade ihre Speere wieder ein. Gerrit war mir etwas voraus, und ich gab Gas, damit ich ihn wieder einholte.
    Keuchend zischte ich ihm zu: „Lass dich auf den Boden fallen und tu so, als ob du dir den Fuß gezerrt hast oder so.“
    Gerrit runzelte nur die Stirn. „Was, warum?“
    „Vertrau mir!“, sagte ich, aber Gerrit lief unbeirrt weiter. Die Oberschüler nahmen nun aufs Neue ihre Positionen ein. Tod gestikulierte, aber ich ignorierte ihn.
    „Gerrit, lass dich fallen, oder es wird was Schreckliches passieren!“ Ich sprach in Filmklischees und fasste ihn an die Schulter. Er schüttelte meine Hand ab und wurde böse.
    „Lass mich in Ruhe. Ich hatte schon genug Ärger wegen dir.“ Er legte noch einen Zahn zu. Meine Seiten schmerzten bereits, aber auch ich erhöhte mein Tempo und zog an seiner Linken vorbei, in der Hoffnung, ihn dadurch vom Platz und den Speeren abzulenken. Ich wollte ihn nach rechts drängen, aber er schob mich immer wieder zurück. Er wurde nur noch wütender, und schließlich rempelte er mich so stark, dass ich über die Rasenkante stolperte und er gleich mit.
    Der Moment, in dem wir fielen, war der, in dem der Oberschullehrer seinen Schützlingen sagte, dass sie werfen können. Am rechten Rand der Werferreihe stand der unglückliche und untalentierte Hendrik Vogel, an dessen Namen ich mich so gut erinnern kann, weil er an diesem Tag ein Trauma verpasst bekam, von dem er sich nie richtig erholte. Er war einer dieser Schüler, die eigentlich gar nichts richtig können, außer essen vielleicht. Dinge geradeaus zu werfen zählte jedenfalls nicht zu seinen Stärken.
    Als Gerrit und ich fielen, sah ich aus den Augenwinkeln den Speer direkt in unsere Richtung fliegen. Überzeugt davon, dass ich von ihm im nächsten Moment getroffen werde, schloss ich meine Augen, glücklich darüber, dass ich Gerrit gerettet hatte. Alle Sorgen fielen in diesem Augenblick von mir ab, obwohl die Sorgen, die ich als Siebenjähriger so hatte, wirklich kaum der Rede wert waren. Die Gewissheit, etwas Gutes getan zu haben und gleichzeitig zu wissen, dass es nun mit mir zu Ende ging … nun, sagen wir, ich hatte Frieden mit mir gemacht.
    In meiner Erinnerung spielt sich alles wie in Zeitlupe ab. Wir schlugen auf dem Boden auf, und kurz darauf hörte ich einen zweiten Aufschlag, gefolgt von einem hilflosen Atemgeräusch. Ich öffnete die Augen und sah Hendrik, wie er mit offenem Mund und ausgestreckten Armen auf dem Rasen stand. Ich drehte mich langsam um, meinen eigenen Leib nach dem Fremdkörper absuchend, der irgendwo in mir stecken musste. Aber ich fand nichts. Nachdem ich mich herumgedreht hatte, sah ich den Speer. Die weiße Metallstange ragte aus Gerrits Brust. Die Stelle, an welcher der Speer eingedrungen war, färbte sich rot, und Gerrit lag mit aufgerissenen Augen da. Er japste nach Luft. Zwei-, drei- viermal. Dann war es vorbei. In der Ferne hörte ich jemanden schreien. Leute rannten auf uns zu, aber ich nahm das nur verschwommen wahr.
    Aus Gerrits Mund kletterte ein farbenfroher Schmetterling, entfaltete seine Flügel und stieg in die Luft. Es kam mir fast so vor, als hätte er sich noch einmal umgedreht und mich angeschaut, aber ehe ich meine Hand nach ihm ausstrecken konnte, umfing der Kescher des Todes ihn.
    „Ich habe dich gewarnt, dass du es nicht verhindern kannst.“
    Was ich gezielt überhört hatte, war eingetroffen. Und ehe ich noch irgendetwas entgegnen konnte, war Tod verschwunden, und die anderen umzingelten Gerrit und mich.

Kapitel 5
    Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass nach dem Vorfall auf dem Sportplatz die Hölle hereinbrach. Der Lehrer von der Oberschule und Herr Marwig versuchten, Gerrit wiederzubeleben, was sich aufgrund des Speeres, der in seiner Brust steckte, eher schwierig gestaltete. Für mich war es offensichtlich, dass das nichts bringen würde. Die Feuerwehr kam, und über Gerrit wurde gleich ein Laken ausgebreitet, was Gerrits Leichnam wie ein Zelt aussehen ließ. Es verlieh dem Ganzen eine surreale Note. Selbstverständlich war die Polizei auch bald da, machte Fotos vom „Tatort“ und befragte alle, was sich zugetragen hatte. Etliche Kinder brauchten psychologische

Weitere Kostenlose Bücher