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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
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meiner Eltern zerkratzt. Jemand hatte offenbar großen Spaß daran, seinen Schlüssel der Länge nach vom Radkasten des Vorderrades bis hinten zum Tankdeckel zu ziehen. Beweisen konnten wir es nie, aber ich bin sicher, dass es dieser Schrecken meiner Alpträume gewesen ist. Jedenfalls stoppten die Kratzer, als sie die Stadt und damit auch mein Leben verließ.
    ***
    Tod ließ mit einem Besuch auf sich warten. Vermutlich ahnte er, dass ich nach der Nummer auf dem Sportplatz nicht gut auf ihn zu sprechen wäre. Sicher, er hatte mich gewarnt, und ich hatte beschlossen, ihn zu ignorieren, aber mein Freund war gestorben, und das in einem Alter, in dem man an den Tod noch nicht einmal denken sollte.
    Unsere Wohnung lag im äußersten Westen Berlins in dem beschaulichen Bezirk Spandau. Damals war der Kalte Krieg noch in vollem Gang. Gorbatschow und seine Politik der Perestroika sollten uns erst in ein paar Jahren beglücken. Daher nahm die Berliner Mauer zu diesem Zeitpunkt noch einen nicht unerheblichen Teil unserer Bezirksgrenze ein. Von unserer Wohnung konnte man auf die Grenzanlagen schauen. Zu Fuß war die Mauer nur einige hundert Meter entfernt, und jedes Mal, wenn wir eine Radtour durch den Wald machten, kamen wir früher oder später daran vorbei. In der Nacht konnte man deutlich die orangefarbenen Leuchten des Todesstreifens erkennen, die sich, so weit das Auge reichte, nach Nord und Süd erstreckten, um jedem Republikflüchtling die Illusion zu nehmen, er könne sich in der Dunkelheit davonstehlen. Trotzdem waren auch ab und an Schüsse zu hören. Mein Vater hatte mir schon früh erklärt, dass wir zwar überall hinfahren oder hinfliegen dürften, aber die Menschen in der DDR nicht. Verwandte meiner Oma kamen sie früher ab und an besuchen und durften das, weil sie bereits Rentner waren. Normalen Jugendlichen oder Erwachsenen war es jedoch verboten, hin und her zu reisen. Die, denen das nicht gefiel und die beschlossen hatten zu fliehen, mussten den verminten Todesstreifen durchqueren, während auf sie geschossen wurde. Soweit ich weiß, kam es in dem Grenzabschnitt, dem wir am nächsten waren, nie zu Todesfällen, aber damals nach Gerrits Tod hoffte ich fast, dass irgendwer bei der Flucht sterben würde, damit Tod in der Nähe wäre und mich eventuell besuchen käme. Schließlich wollte ich ihm mal richtig die Meinung geigen. Mein Wunsch ging glücklicherweise nicht in Erfüllung, aber nach zwei Wochen ließ er sich dann doch, auch ohne Grenztote, endlich blicken.
    Ich hatte mich, wie oft zu dieser Zeit, in meinem Zimmer vergraben und spielte Schach gegen mich selbst, eine Tätigkeit, die eigentlich nur Superschurken oder totalen Losern zustand. Da ich keine Ambitionen hatte, die Weltherrschaft an mich zu reißen, war relativ klar, zu was ich tendierte. Tod schritt durch das Balkonfenster, als wäre es Luft, und plazierte sich mit einem Schwung seines Umhangs auf meinem Schreibtischstuhl, als wäre es ein Thron.
    „Hallo“, sagte er und starrte mich unverwandt an. Ich antwortete lediglich mit einem Grummeln.
    „Wie ich sehe, hegst du immer noch einen Groll auf mich, obwohl nicht ich es war, der den Fehler gemacht hat.“
    „Gerrit hätte nicht sterben sollen. Er war noch viel zu jung!“
    „Er war vielleicht jung, aber trotzdem war seine Zeit gekommen. Du kannst nichts dagegen unternehmen. Der Tod holt sich jeden, früher oder später.“
    „Dann hättest du ihn eben nicht holen dürfen.“
    Tod seufzte. „So funktioniert das nicht.“
    „Warum nicht?“
    „Auch ich bin an gewisse Regeln gebunden. Ich kann nicht einfach jemanden am Leben lassen, nur weil ich ihn besonders sympathisch finde. Ich kann auch niemanden mitnehmen, weil er mir besonders unsympathisch ist. Allerdings ist mir das größtenteils ohnehin gleich.“
    „Dir ist es egal, dass Gerrits Mutter gemein zu mir ist und die Kinder in der Schule nicht mehr mit mir spielen wollen?“
    Er beugte sich nach vorne. „Was genau ärgert dich denn eigentlich? Dass dein Freund tot ist oder dass dich die Leute nicht so mögen, wie du es gerne hättest?“
    Ich war in der Defensive. Und er hatte mir etwas zum Nachdenken gegeben. „Ich will Gerrit zurück. Und ich will, dass mich die Leute wieder mögen.“
    „Gerrit kommt nicht mehr zurück. Und an deinem anderen Wunsch wirst du wohl arbeiten müssen.“
    „Aber warum musste er denn sterben? Er war erst acht! Leute sollten nicht sterben müssen. Hat dir Gott das befohlen?“
    Tod lehnte sich wieder

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