Der Tod wartet
etwas erstaunt zu sein. «Wie haben Sie denn das geschafft?»
«Sie kam auf mein Zimmer», sagte Sarah, «spät nachts.»
Sie sah, wie sich die nachgezogenen Augenbrauen leicht nach oben bewegten. Verlegen fuhr sie fort: «Sie finden das bestimmt sehr merkwürdig.»
«Nein», sagte Nadine Boynton. «Es freut mich. Es freut mich sogar sehr. Es ist schön, dass Carol jemanden hat, mit dem sie reden kann.»
«Wir – wir haben uns sehr gut verstanden.» Sarah bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen. «So gut, dass wir uns für den Abend darauf wieder verabredet haben.»
«Und?»
«Aber Carol kam nicht.»
«Sie kam nicht?»
Nadines Stimme klang kühl, nachdenklich. Ihr Gesicht, das so ruhig und sanft war, verriet Sarah nichts.
«Nein. Gestern begegneten wir uns in der Hotelhalle. Ich sprach sie an, aber sie sagte kein Wort. Sah mich nur kurz an, wandte den Blick ab und eilte weiter.»
«Ich verstehe.»
Das Gespräch stockte. Es fiel Sarah schwer weiterzusprechen. Schließlich sagte Nadine Boynton: «Das – tut mir sehr Leid. Carol ist – ziemlich ängstlich und scheu.»
Wieder Schweigen. Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen. «Wissen Sie, Mrs Boynton, ich bin Ärztin. Und ich glaube – ich glaube, dass es für Ihre Schwägerin gut wäre, wenn sie – sich nicht zu sehr von anderen Menschen abkapseln würde.»
Nadine Boynton sah Sarah nachdenklich an. «Ich verstehe. Sie sind also Ärztin. Das ist natürlich etwas anderes.»
«Dann verstehen Sie, wovon ich spreche?», sagte Sarah eindringlich.
Nadine neigte den Kopf. Sie war noch immer gedankenvoll.
«Sie haben natürlich vollkommen Recht», sagte sie nach einer Weile. «Aber es ist nicht so einfach. Meine Schwiegermutter ist bei schlechter Gesundheit und sie hat eine, ich möchte sagen, krankhafte Abneigung dagegen, Außenstehende in den Kreis ihrer Familie vordringen zu lassen.»
«Aber Carol ist eine erwachsene Frau!», sagte Sarah rebellisch.
Nadine Boynton schüttelte den Kopf.
«O nein», sagte sie. «Körperlich vielleicht, aber nicht geistig. Das müssen Sie doch bemerkt haben, als Sie mit ihr sprachen. In einer kritischen Situation wird sie immer wie ein verängstigtes Kind reagieren.»
«Glauben Sie, dass das der Grund war? Glauben Sie, dass sie – Angst bekam?»
«Ich könnte mir vorstellen, dass meine Schwiegermutter darauf bestand, dass Carol nichts mehr mit Ihnen zu tun hat, Miss King.»
«Und Carol gehorchte?»
Nadine Boynton sagte ruhig: «Können Sie sich wirklich etwas anderes bei ihr vorstellen?»
Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Sarah spürte, dass sie und Nadine sich hinter der Maske konventioneller Worte verstanden. Sie hatte das Gefühl, dass die andere die Situation richtig einschätzte, aber offensichtlich nicht bereit war, darüber zu sprechen.
Sarah ließ den Mut sinken. Neulich abends hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Schlacht schon halb gewonnen sei. Sie hatte geglaubt, Carol bei weiteren heimlichen Treffen zur Auflehnung anstacheln zu können – sie und natürlich auch Raymond. (Um ganz ehrlich zu sein: Hatte sie dabei nicht die ganze Zeit in Wahrheit Raymond im Sinn gehabt?) Und nun war sie gleich im ersten Gefecht schmählich von dem unförmigen Koloss mit den bösen, schadenfrohen Augen besiegt worden. Carol hatte sich kampflos geschlagen gegeben.
«Aber das ist doch völlig falsch! » , rief Sarah aus.
Nadine sagte nichts. Ihr Schweigen traf Sarah wie eine eiskalte Hand, die sich auf ihr Herz legte. Sie dachte: Diese Frau weiß viel besser als ich, wie hoffnungslos alles ist. Sie muss damit leben!
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die alte Mrs Boynton trat heraus. Sie ging auf ihren Stock gelehnt, während Raymond sie auf der anderen Seite stützte.
Sarah zuckte leicht zusammen. Sie sah, wie die Augen der alten Frau von ihr zu Nadine und wieder zurück wanderten. Sie war darauf gefasst gewesen, Abneigung in diesen Augen zu lesen, ja sogar Hass. Aber sie war nicht auf das gefasst, was sie tatsächlich in ihnen sah – triumphierendes und boshaftes Vergnügen. Sarah wandte sich ab. Nadine ging zu den beiden hinüber.
«Da bist du ja, Nadine», sagte Mrs Boynton. «Ich werde mich einen Moment setzen und ausruhen, bevor ich ausgehe.»
Die beiden halfen ihr auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Nadine setzte sich neben sie.
«Mit wem hast du dich eben unterhalten, Nadine?»
«Mit einer Miss King.»
«Ach, ja. Das junge Ding, das neulich abends mit Raymond sprach. Nun, Ray,
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