Der Tod wartet
veranlasst?»
Bei der Erwähnung von Mrs Boynton war Carol zusammengezuckt. Sarah sagte rasch:
«Wissen Sie, ich bin Ärztin. Ich habe gerade mein Examen gemacht. Ihre Mutter, vielmehr Ihre Stiefmutter, interessiert mich – als Fall, meine ich. Für mich ist sie nämlich eindeutig ein pathologischer Fall.»
Carol starrte sie an. Offensichtlich war das ein völlig neuer Gedanke für sie. Sarah hatte nicht von ungefähr gesprochen. Ihr war klar, dass Mrs Boynton für ihre Familie eine Art mächtiger, abstoßender Götze war, der alles überschattete. Sarah hatte die feste Absicht, ihr ein wenig von ihrer Angst einflößenden Wirkung zu nehmen.
«Ja», sagte sie. «Menschen können unter – unter krankhafter Herrschsucht leiden. Sie werden tyrannisch und bestehen darauf, dass alles genau so gemacht wird, wie sie sagen, und es ist immer äußerst schwierig, mit solchen Menschen zurechtzukommen.»
Carol stellte ihre Tasse ab.
«Ach», rief sie, «ich bin ja so froh, dass ich mit Ihnen reden kann! Ich glaube nämlich, dass Ray und ich schon – na ja, richtig komisch geworden sind. Wir steigern uns schon in alles Mögliche hinein.»
«Es tut immer gut, mit einem Unbeteiligten zu sprechen», sagte Sarah. «Innerhalb der eigenen Familie ist man meist zu gefühlsbetont.» Dann fragte sie beiläufig: «Wenn Sie so unglücklich sind – haben Sie dann nie daran gedacht, von zu Hause wegzugehen?»
Carol sah sie entsetzt an. «O nein! Wie könnten wir? Ich, ich meine, Mutter würde es nie erlauben.»
«Aber sie könnte Sie nicht daran hindern», sagte Sarah sanft. «Sie sind doch volljährig.»
«Ich bin dreiundzwanzig.»
«Eben.»
«Trotzdem kann ich es nicht – ich meine, ich wüsste gar nicht, wo ich hingehen und was ich tun sollte.»
Ihre Stimme klang bestürzt.
«Wissen Sie», sagte sie, «wir haben kein Geld.»
«Haben Sie keine Freunde, zu denen Sie gehen könnten?»
«Freunde?» Carol schüttelte den Kopf. «O nein, wir kennen niemanden!»
«Hat keiner von Ihnen je daran gedacht, sich selbstständig zu machen?»
«Nein. Ich glaube nicht. Das – das könnten wir nicht.»
Sarah wechselte das Thema. Die Bestürzung des jungen Mädchens erregte ihr Mitleid.
Sie sagte: «Mögen Sie Ihre Stiefmutter?»
Carol schüttelte langsam den Kopf. Mit ängstlicher Stimme flüsterte sie: «Ich hasse sie. Und Ray hasst sie auch… Wir – wir haben uns oft gewünscht, dass sie tot wäre.»
Sarah wechselte erneut das Thema.
«Erzählen Sie mir etwas über Ihren älteren Bruder.»
«Über Lennox? Ich weiß nicht, was mit Lennox los ist. Er spricht kaum noch. Er ist immer wie in Trance. Nadine macht sich schreckliche Sorgen um ihn.»
«Sie haben Ihre Schwägerin gern, nicht?»
«Ja. Nadine ist anders. Sie ist immer freundlich. Aber sie ist sehr unglücklich.»
«Wegen Ihres Bruders?»
«Ja.»
«Sind die beiden schon lange verheiratet?»
«Vier Jahre.»
«Und sie haben immer bei Ihnen zu Hause gewohnt?»
«Ja.»
«Gefällt das Ihrer Schwägerin?», fragte Sarah.
«Nein.»
Nach einer Weile sagte Carol:
«Vor etwas über vier Jahren gab es einen furchtbaren Krach. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass keiner von uns daheim das Haus verlässt. Ich meine, wir gehen natürlich in den Garten und so, aber das ist alles. Nur Lennox hat sich manchmal nachts aus dem Haus geschlichen. Er ging nach Fountain Springs – zu einer Tanzveranstaltung. Mutter war furchtbar wütend, als sie dahinter kam. Es war schrecklich! Bald darauf hat sie dann Nadine eingeladen. Nadine ist eine entfernte Verwandte meines Vaters. Sie war sehr arm und ließ sich damals zur Krankenschwester ausbilden. Sie kam und blieb einen Monat bei uns. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es war, jemanden zu Besuch zu haben! Und sie und Lennox verliebten sich ineinander. Und Mutter meinte, dass es das Beste wäre, wenn sie schnell heiraten und weiter bei uns wohnen würden.»
«Und Nadine war damit einverstanden?»
Carol zögerte. «Ich glaube nicht, dass sie große Lust dazu hatte, aber sie hatte auch nicht direkt etwas dagegen. Später wollte sie dann weg – zusammen mit Lennox natürlich…»
«Aber daraus wurde nichts?»
«Nein. Mutter wollte nichts davon wissen.»
Carol schwieg einen Moment und sagte dann:
«Ich glaube, dass – dass sie Nadine inzwischen nicht mehr mag. Nadine ist – eigenartig. Man weiß nie, was sie denkt. Sie versucht Jinny zu helfen, und das passt Mutter nicht.»
«Jinny ist Ihre jüngere Schwester?»
«Ja.
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