Der Tod wartet
einigen Fläschchen auf meinem Toilettentisch.»
Er beugte sich vor.
«Sie werden vielleicht sagen, dass ich sie am Vortag schlicht übersehen hatte. Mir war furchtbar elend, ich hatte Fieber und Schüttelfrost, und wie oft sucht man etwas, das die ganze Zeit da ist, und findet es trotzdem nicht! Ich kann nur sagen, dass ich absolut sicher bin, dass die Spritze am Tag davor nicht da war.»
«Aber das ist noch nicht alles», sagte Carbury.
«Nein. Ich sollte noch zwei weitere Dinge erwähnen, die wichtig sein könnten. Am Handgelenk der Toten befand sich ein kleiner Einstich – wie von einer subkutan verabreichten Injektion. Die Tochter behauptet allerdings, dass er von einem gewöhnlichen Nadelstich stammt – »
Poirot machte eine Bewegung. «Welche Tochter?»
«Carol Boynton.»
«Ah. Bitte fahren Sie fort.»
«Und ein letzter Punkt. Als ich zufällig in meine Reiseapotheke sah, bemerkte ich, dass mein Vorrat an Digitoxin stark abgenommen hatte.»
«Digitoxin», sagte Poirot, «ist ein giftiges Herzmittel, nicht wahr?»
«Ja. Es wird aus Digitalis purpurea gewonnen, dem gewöhnlichen Roten Fingerhut. Er besitzt vier aktive Grundbestandteile: Digitalin, Digitonin, Digitalein und Digitoxin. Von diesen gilt Digitoxin als giftigster Wirkstoff der Digitalis-Blätter. Versuche haben gezeigt, dass es sechs- bis zehnmal stärker ist als Digitalin oder Digitalein. In Frankreich ist es zugelassen – aber es steht nicht in der offiziellen englischen Arzneimittelliste.»
«Und was bewirkt eine hohe Dosis Digitoxin?»
Dr. Gérard sagte sehr ernst: «Eine hohe Dosis Digitoxin, die durch intravenöse Injektion direkt in den Blutkreislauf gelangt, führt zum sofortigen Tod durch Herzlähmung. Man schätzt, dass vier Milligramm für einen erwachsenen Mann tödlich sind.»
«Und Mrs Boynton war bereits herzkrank?»
«Ja. Genau gesagt nahm sie sogar ein Medikament, das Digitalin enthält.»
«Das», erklärte Poirot, «ist wirklich sehr interessant.»
«Wollen Sie damit sagen», fragte Colonel Carbury, «dass ihr Tod auf eine Überdosis ihrer eigenen Medizin zurückzuführen sein könnte?»
«Ja – das wäre möglich. Aber ich dachte dabei noch an etwas anderes.»
«In gewissem Sinn», sagte Dr. Gérard, «könnte man Digitalin als ein kumulativ wirkendes Arzneimittel bezeichnen. Und was den Obduktionsbefund betrifft, so können die Wirkstoffe von Digitalis töten, ohne Spuren zu hinterlassen.»
Poirot nickte langsam zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
«Ja, das ist raffiniert – sehr raffiniert. Es ist also praktisch unmöglich, es vor Gericht nachzuweisen. Nun, meine Herren, eines kann ich Ihnen versichern: Falls es sich hier um Mord handelt, dann um einen ganz raffinierten! Die Spritze wird zurückgelegt, das Gift, das benutzt wird, ist ein Gift, das das Opfer schon des Längeren einnahm – genügend Möglichkeiten, dass ein Irrtum oder ein Unfall vorliegt. O ja, hier war ein kluger Kopf am Werk. Dahinter steckt Überlegung – Sorgfalt – Genialität.»
Er saß ein Weilchen schweigend da, dann hob er den Kopf. «Etwas ist mir allerdings ein Rätsel.»
«Und das wäre?»
«Der Diebstahl der Spritze.»
«Sie wurde entwendet», sagte Dr. Gérard rasch.
«Entwendet – und zurückgebracht?»
«Ja».
«Seltsam», sagte Poirot. «Sehr seltsam. Alles andere passt vortrefflich zusammen…»
Colonel Carbury sah ihn neugierig an.
«Nun?», sagte er dann. «Wie lautet Ihr fachmännisches Urteil? War es Mord – oder war es kein Mord?»
Poirot hielt abwehrend die Hand hoch.
«Geduld. So weit sind wir noch nicht. Man muss noch weitere Indizien in Erwägung ziehen.»
«Was denn für Indizien? Sie kennen doch schon alle.»
«Ah, aber hier handelt es sich um ein Indiz, das ich, He r cule Poirot, beisteuere.»
Er nickte nachdrücklich und lächelte ein wenig über die erstaunten Gesichter der beiden anderen.
«Ja, es ist kurios, das. Dass ich, dem Sie die Geschichte erzählen, meinerseits in der Lage bin, ein Indiz zu liefern, von dem Sie nichts wissen. Es war so. Im Hotel Solomon gehe ich eines Abends zum Fenster, um mich zu vergewissern, dass es geschlossen ist – »
«Geschlossen – oder offen?», fragte Carbury.
«Geschlossen», sagte Poirot bestimmt. «Es war offen, also gehe ich natürlich, es zu schließen. Aber bevor ich das mache, als meine Hand schon auf dem Griff liegt, höre ich eine Stimme – eine angenehme Stimme, leise und deutlich, die vor Erregung ein wenig zittert. Ich sage zu mir,
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