Der Tod wartet
an irgendwen gerichtet gewesen sein.»
«Ein wichtiger Punkt», sagte Poirot. «Er war mir keineswegs entgangen. Alors, mit wem sprach Raymond Boynton? Zweifellos mit einem Mitglied seiner Familie. Aber mit welchem? Können Sie uns etwas über die psychische Verfassung der anderen Familienmitglieder sagen, Dr. Gérard?»
Gérard antwortete unverzüglich:
«Carol Boynton war in einem ganz ähnlichen Zustand wie Raymond, würde ich sagen – in einem Zustand der Auflehnung, verbunden mit einer hochgradigen nervösen Erregung, aber in ihrem Fall ohne die zusätzliche Belastung durch eine sexuelle Komponente. Lennox Boynton hatte das Stadium der Auflehnung bereits hinter sich. Er war in Apathie versunken. Ich glaube, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Reaktion auf seine Umwelt bestand darin, sich mehr und mehr in sich selbst zurückzuziehen. Er ist extrem introvertiert.»
«Und seine Frau?»
«Seine Frau war zwar müde geworden und unglücklich, ließ aber keine Anzeichen einer psychischen Störung erkennen. Ich glaube, sie stand kurz vor einer Entscheidung.»
«Was für einer Entscheidung?»
«Ob sie ihren Mann verlassen sollte oder nicht.»
Er berichtete von seinem Gespräch mit Jefferson Cope. Poirot nickte verständnisvoll.
«Was ist mit dem jüngeren Mädchen – Ginevra, wenn ich mich nicht irre?»
Das Gesicht des Franzosen wurde ernst. Er sagte:
«Meiner Meinung nach ist sie psychisch in einem äußerst gefährlichen Zustand. Sie zeigt bereits die ersten Anzeichen von Schizophrenie. Da sie die in ihrem Leben herrschende Unterdrückung nicht ertragen kann, flüchtet sie sich in eine Traumwelt. Sie leidet an Verfolgungswahn im fortgeschrittenen Stadium – das heißt, sie behauptet, königlichen Geblüts zu sein, in Gefahr zu schweben, von Feinden umringt zu sein und so weiter – das Übliche!»
«Und das ist – gefährlich?»
«Sehr gefährlich sogar. Es ist häufig der Beginn eines zwanghaften Tötungsdrangs. Der Kranke tötet nicht aus Mordgier, sondern aus Notwehr. Er tötet, um nicht selbst getötet zu werden. Aus der Sicht des Patienten ist das absolut rational.»
«Sie glauben also, Ginevra Boynton könnte ihre Mutter getötet haben?»
«Ja. Aber ich bezweifle, dass sie über das Wissen oder die Zielstrebigkeit verfügt, einen Mord in der Form auszuführen, wie er hier begangen wurde. Die Vorgehensweise dieser Art manisch-depressiver Patienten ist im Allgemeinen sehr direkt und durchschaubar. Und ich bin mir fast sicher, dass Ginevra Boynton eine spektakulärere Methode gewählt hätte.»
«Aber man muss sie als Täter in Betracht ziehen?», hakte Poirot nach.
«Ja», räumte Gérard ein.
«Und danach – nachdem die Tat begangen war? Glauben Sie, dass die ganze Familie weiß, wer sie begangen hat? »
«Sie wissen es!», sagte Colonel Carbury unvermittelt. «Wenn mir jemals ein Grüppchen untergekommen ist, das etwas zu verbergen hatte – dann diese Familie! Die machen uns doch alle was vor!»
«Wir werden sie dazu bringen, uns zu sagen, was dahinter steckt», erwiderte Poirot.
«Daumenschrauben?», meinte Colonel Carbury.
«Nein.» Poirot schüttelte den Kopf. «Nur eine ganz normale Unterhaltung. Im Großen und Ganzen erzählen einem die Leute nämlich die Wahrheit. Weil es das Einfachste ist! Weil es weniger anstrengend für die Phantasie ist! Man kann einmal zu einer Lüge greifen, zweimal oder dreimal, sogar viermal – aber man kann nicht immer lügen. Und darum kommt die Wahrheit stets ans Licht.»
«Da ist was dran», räumte Carbury ein.
Dann sagte er geradeheraus: «Sie werden also mit ihnen reden, wie Sie sagen. Heißt das, dass Sie die Sache übernehmen?»
Poirot deutete eine Verbeugung an. Dann sagte er:
«Lassen Sie uns etwas klarstellen. Sie wollen die Wahrheit wissen, und ich verpflichte mich, sie Ihnen zu liefern. Aber vergessen Sie eines nicht: Selbst wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben, wird es vielleicht keine Beweise geben. Das heißt, keine Beweise, die vor Gericht Bestand hätten. Sie verstehen, was ich meine?»
«Vollkommen», sagte Carbury. «Sie sorgen dafür, dass ich erfahre, was wirklich passiert ist, und dann liegt es bei mir zu entscheiden, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht – unter Berücksichtigung der internationalen Aspekte. Auf jeden Fall wird die Sache aufgeklärt. Keine Unklarheiten. Kann Unklarheiten nicht ausstehen.»
Poirot lächelte.
«Und noch etwas», sagte Carbury. «Ich kann Ihnen nicht viel Zeit
Weitere Kostenlose Bücher