Der Tod wartet
rothaarige Boynton-Tochter ins Zelt. Miss King traf als Letzte ein. Da wollte man bereits das Abendessen servieren. Der Dragoman schickte einen der Diener los, um der alten Mrs Boynton Bescheid zu sagen. Der Mann kam mit einem seiner Kollegen ziemlich aufgeregt zurückgerannt und sagte dem Dragoman etwas auf Arabisch. Es hieß, dass Mrs Boynton krank sei. Miss King bot ihre Dienste an. Dann ging sie mit dem Dragoman weg. Sie kam zurück und informierte Mrs Boyntons Familie.»
«Und das völlig abrupt», warf Miss Pierce ein. «Platzte einfach damit heraus! Ich persönlich finde, dass man das schonender hätte tun müssen.»
«Und wie nahm Mrs Boyntons Familie die Nachricht auf?», fragte Poirot.
Ausnahmsweise schienen sowohl Lady Westholme als auch Miss Pierce um eine Antwort verlegen zu sein. Schließlich sagte Erstere mit einer Stimme, die ihre übliche Selbstsicherheit vermissen ließ:
«Tja – also – das ist schwer zu sagen. Sie – sie waren alle ziemlich sprachlos.»
«Erschüttert», sagte Miss Pierce. Es klang eher wie eine Vermutung als wie eine Tatsache.
«Sie gingen alle mit Miss King hinaus», sagte Lady Westholme. «Miss Pierce und ich besaßen so viel Taktgefühl, zu bleiben, wo wir waren.»
In den Augen von Miss Pierce erschien plötzlich ein leicht wehmütiger Ausdruck.
«Ich verabscheue penetrante Neugier!», fuhr Lady Westholme fort.
Der wehmütige Blick wurde ausgeprägter. Es war klar, dass Miss Pierce nichts anderes übrig geblieben war, als penetrante Neugier ebenfalls zu hassen!
«Etwas später», sagte Lady Westholme abschließend, «kamen der Dragoman und Miss King zurück. Ich schlug vor, das Abendessen für uns vier sofort zu servieren, damit die Boyntons später allein und ohne die peinliche Anwesenheit von Fremden essen konnten. Mein Vorschlug wurde angenommen, und unmittelbar nach dem Essen zog ich mich in mein Zelt zurück. Miss King und Miss Pierce folgten meinem Beispiel. Mr Cope blieb meines Wissens im Gemeinschaftszelt, da er ein Freund der Familie ist und ihnen vermutlich beistehen wollte. Das ist alles, was ich weiß, Monsieur Poirot.»
«Nachdem Miss King die Familie informiert hatte, verließen da alle Boyntons mit ihr das Gemeinschaftszelt?»
«Ja – das heißt, nein. Jetzt, wo Sie es erwähnen, glaube ich mich zu entsinnen, dass das rothaarige Mädchen nicht mitging. Vielleicht erinnern Sie sich, Miss Pierce?»
«Ja, ich glaube – ich bin sicher, dass sie blieb.»
Poirot fragte:
«Und was machte sie?»
Lady Westholme starrte ihn verständnislos an. «Was sie machte, Monsieur Poirot? Sie machte gar nichts, soweit ich mich erinnern kann.»
«Ich meine, nähte sie oder las sie? Wirkte sie verstört? Sagte sie etwas?»
«Tja, also wirklich…» Lady Westholme runzelte die Stirn. «Sie – nun ja – sie saß einfach da, wenn ich mich recht erinnere.»
«Sie spielte mit ihren Fingern herum», sagte Miss Pierce plötzlich. «Ich entsinne mich, dass mir das auffiel. Armes Ding, dachte ich noch, das zeigt, dass die Sache sie doch sehr mitnimmt! Ihrem Gesicht war nämlich überhaupt nichts anzumerken, wissen Sie – nur ihre Hände waren ständig in Bewegung.»
«Ich erinnere mich», fuhr Miss Pierce im Plauderton fort, «wie ich einmal eine Pfundnote zerriss – genau so, ohne zu wissen, was ich tat. ‹Soll ich den nächsten Zug nehmen und zu ihr fahren?›, dachte ich. Es ging um eine Großtante von mir, die plötzlich erkrankt war. ‹Oder soll ich nicht fahren?› Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, weder so noch so, und dann blickte ich nach unten und merkte, dass ich statt des Telegramms eine Pfundnote – eine Pfundnote! – in winzige Stücke riss!»
Miss Pierce hielt dramatisch inne.
Lady Westholme, die es nicht billigen konnte, dass ihr Trabant plötzlich ins Rampenlicht drängte, sagte frostig:
«Haben Sie noch weitere Fragen, Monsieur Poirot?»
Poirot, der in Gedanken versunken gewesen war, kam mit einem Ruck zu sich. «Nein – nein, keine. Sie waren sehr präzise – sehr exakt.»
«Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis», stellte Lady Westholme mit Befriedigung fest.
«Eine letzte kleine Bitte noch, Lady Westholme», sagte Poirot. «Bitte bleiben Sie so, wie Sie jetzt sitzen, und drehen Sie sich nicht um. Wären Sie wohl so freundlich, mir zu beschreiben, was Miss Pierce heute trägt – natürlich nur, wenn Miss Pierce nichts dagegen einzuwenden hat?»
«O nein! Ganz und gar nicht!», zwitscherte Miss Pierce.
«Also wirklich,
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