Der Tod wartet
«Was meinen Sie mit ‹ungeklärt›?»
Poirot zuckte mit den Schultern. «Es stellt sich immer die Frage: War es ein natürlicher Tod – oder könnte es vielleicht Selbstmord gewesen sein?»
«Selbstmord?» Lennox Boynton starrte Poirot entgeistert an.
Poirot sagte leichthin:
«Sie wissen das selbstverständlich am besten. Colonel Carbury tappt natürlich im Dunkeln. Aber er muss entscheiden, ob er eine Untersuchung anordnen soll oder nicht – eine Obduktion und ähnliche Dinge. Da ich zufällig gerade hier war und da ich in derlei Dingen große Erfahrung besitze, schlug er mir vor, Nachforschungen anzustellen und ihn zu beraten in dieser Angelegenheit. Natürlich möchte er Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, wenn es sich vermeiden lässt.»
Lennox Boynton sagte ärgerlich: «Ich werde unserem Konsul in Jerusalem telegrafieren.»
Poirot sagte verbindlich: «Das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht.»
Beide schwiegen. Schließlich breitete Poirot die Hände aus und sagte:
«Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten wollen – »
«Nein, nein», sagte Lennox Boynton rasch. «Ich – mir kommt das alles nur – völlig überflüssig vor.»
«Ich verstehe. Ich verstehe vollkommen. Aber die Sache ist sehr einfach. Reine Routine, wie man so sagt. A lors, an dem Tag, an dem Ihre Mutter starb, verließen Sie nachmittags das Camp in Petra und machten einen Spaziergang. Ist das richtig?»
«Ja. Wir machten alle einen Spaziergang – mit Ausnahme meiner Mutter und meiner jüngsten Schwester.»
«Ihre Mutter saß zu dieser Zeit vor ihrer Höhle?»
«Ja, direkt vor dem Eingang. Dort saß sie jeden Nachmittag.»
«Gut. Wann brachen Sie auf?»
«Kurz nach drei, glaube ich.»
«Und wann kehrten Sie von Ihrem Spaziergang zurück?»
«Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen – gegen vier, vielleicht auch gegen fünf.»
«Also ein bis zwei Stunden, nachdem Sie aufgebrochen waren?»
«Ja – so ungefähr, würde ich sagen.»
«Kamen Sie auf dem Rückweg an jemand vorbei?»
«Wie meinen Sie das?»
«Ob Sie auf dem Rückweg an jemand vorbeikamen. Zum Beispiel an zwei Damen, die auf einem Stein saßen.»
«Keine Ahnung. Schon möglich.»
«Vielleicht waren Sie zu sehr in Ihre Gedanken vertieft, um sie zu bemerken?»
«Ja, das könnte sein.»
«Sprachen Sie mit Ihrer Mutter, als Sie wieder im Camp waren?»
«Ja – ja, allerdings.»
«Sie klagte nicht darüber, dass sie sich unwohl fühlte?»
«Nein – nein, es schien alles in Ordnung zu sein.»
«Darf ich fragen, worüber Sie beide sprachen?»
Lennox zögerte einen Moment. «Sie meinte, ich sei ziemlich bald zurückgekommen. Ich bejahte es.» Er hielt abermals inne, versuchte sich zu besinnen. «Ich sagte, dass es sehr heiß sei. Sie – sie fragte mich nach der Uhrzeit, sagte, ihre Armbanduhr sei stehen geblieben. Ich nahm ihr die Uhr ab, zog sie auf, stellte sie und band sie ihr wieder um.»
Poirot warf freundlich ein: «Und wie spät war es da?»
«Wie?», sagte Lennox.
«Wie spät war es, als Sie die Armbanduhr stellten?»
«Ach so. Es war fünfundzwanzig Minuten vor fünf.»
«Dann wissen Sie doch ganz genau, wann Sie ins Camp zurückkehrten», sagte Poirot freundlich.
Lennox wurde rot. «Natürlich! Wie dumm von mir! Sie müssen entschuldigen, Monsieur Poirot, aber in meinem Kopf geht alles drunter und drüber. Die ganze Aufregung – »
«Oh, das ist nur verständlich», fiel ihm Poirot ins Wort, «absolut verständlich! Es ist alles in höchstem Maße beunruhigend! Und was geschah dann?»
«Ich fragte meine Mutter, ob ich ihr etwas bringen sollte. Etwas zu trinken – Tee, Kaffee oder so. Sie sagte, nein. Daraufhin ging ich ins Gemeinschaftszelt. Von den Dienern war nichts zu sehen, aber ich fand eine Flasche Sodawasser und trank sie aus. Ich war sehr durstig. Ich habe mich hingesetzt und einige alte Ausgaben der Satu r day Evening Post gelesen. Dabei muss ich wohl eingenickt sein.»
«Ihre Frau kam ebenfalls ins Gemeinschaftszelt?»
«Ja, sie kam kurz nach mir.»
«Und Sie haben Ihre Mutter nicht lebend wieder gesehen?»
«Nein.»
«Sie schien nicht erregt oder aufgebracht zu sein, als Sie mit ihr sprachen?»
«Nein, sie war so wie immer.»
«Sie erwähnte nicht, dass sie mit einem der Diener Ärger oder Unannehmlichkeiten gehabt hatte?»
Lennox starrte ihn verblüfft an. «Nein, mit keinem Wort.»
«Und das ist alles, was Sie mir sagen können?»
«Leider, ja.»
«Ich danke Ihnen, Mr Boynton.»
Poirot neigte den Kopf
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