Der Tod wirft lange Schatten
Ende – dabei hätte alles so schön sein können
Früh im Mai war es schon unerträglich heiß. Vor drei Monaten hatte es zuletzt geregnet, und für die Landwirtschaft wurde das Schlimmste befürchtet. Das Bett der Rosandra führte nur wenig Wasser, obwohl ihr Ursprung in den sonst niederschlagsreichen Bergfalten des Monte Carso lag und der Fluß einst die unzähligen Ölmühlen im Tal betrieben hatte. Sie waren nach einem Bad im Meer mit seinem verbeulten Lieferwagen losgefahren. Er hatte von einem großartigen Naturereignis geschwärmt, das er ihr zeigen wollte. Ein tief in das Karstgebirge eingeschnittenes Tal! Und erst nach halbstündiger Fahrt zu erreichen. Dann noch ein längerer Spaziergang. Das war nichts für sie. Es war schon spät am Nachmittag gewesen und sie wollte lieber den Sonnenuntergang am Meer genießen. Aber schließlich hatte er sie doch überredet. Ein römischer Aquädukt, ein Bad im Fluß, danach eine kleine Gastwirtschaft an der Grenze, wo es handfeste Bauerngerichte gab und kräftigen Wein, und selbstverständlich würde er sie einladen.
Sie waren langsam durch Bagnoli gefahren, am Büro der Partisanenvereinigung vorbei bis nach Bagnoli superiore, das auf slowenisch Konec hieß: Ende. Er hatte ihr vom Weinanbau in der Gegend erzählt, der seit einiger Zeit wieder mit Sinn für Qualität betrieben wurde, und von der Olivenölproduktion, die seit Tausenden von Jahren an den Ausläufern des Monte Carso und um den Castelliere San Michele ansässig war. Die Nähe von Berg und Meer, die starken Temperaturschwankungen seien wichtig für die Qualität. Er erzählte von Starec, Ota und Sancin, deren Öle zu den besten des ganzen Landes gehörten, aber sehr teuer waren – wenn man sie überhaupt bekam. Er wußte viel, und es war angenehm, neben ihm in dem rumpelnden Auto zu sitzen und zuzuhören. Die kleinen Steinhäuser standen dicht aneinandergeduckt, wegen der Bora, die von den kargen, geröllüberzogenen Abhängen aus hellgrauem Kalkstein durch das Tal herunterpfiff und an ungeschützten Stellen alle Vegetation mit sich forttrug. Nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte, hörte sie durch das ohrenbetäubende Gezirpe der Zikaden das Gemurmel der Rosandra. Akazien, Pappeln, Weiden und Ahornbäume säumten das Ufer des kleinen Flusses. Nach wenigen Metern führte ein steiniger Pfad entlang der römischen Wasserleitung ins Tal hinein. Rot- und blauweiße Markierungen an den Bäumen wiesen die Richtung. Sie bewunderten den Wasserfall, den sie nach einer halben Stunde erreichten.
»Da unten schwimmt jemand«, sagte sie und deutete auf Kleidungsstücke, die in einen Busch geworfen worden waren.
Er schüttelte den Kopf. »Das wirst du noch öfter sehen. Das sind die Sachen von Illegalen, die hier über die Grenze gekommen sind. Der Übergang ist unbewacht. Das Val Rosandra«, erklärte er stolz, »steht wegen seines Artenreichtums unter dem Schutz der Unesco. Jede einzelne Pflanze, und hier gibt es eine Menge seltener Pflanzen.«
»Und wo ist die versprochene Trattoria?« fragte sie, als er sie an der Taille faßte und stützte, während sie über ein Geröllfeld den steilen Anstieg hinauf zu einer kleinen Kirche erklommen.
»Wart ab, gleich siehst du die Dächer der Häuser von Botazzo. Dort auf der anderen Seite des Tals gab es früher eine kleine Eisenbahn, die die abgelegenen Ortschaften mit der Stadt verbunden hat.«
»Schade, daß es sie nicht mehr gibt«, sagte sie.
»Du könntest nachher nicht in der Rosandra baden.«
»Man müßte doch nur an der richtigen Stelle aussteigen. Kommt man wirklich nicht mit dem Auto hierher?«
»Nur die Forstbehörde und die Anwohner. Sie fahren Geländewagen.«
Beim Abstieg sahen sie endlich die drei Häuser. Bald hörten sie Stimmengewirr, und dann kam ihnen eine Gruppe Wanderer entgegen. Als sie schließlich den Gastraum der Trattoria betraten, war die Sonne bereits hinter dem Bergrücken versunken. Die Wirtin, verwundert über die späten Gäste, brachte einen Liter offenen Rotwein und empfahl Bratwürste mit Stampfkartoffeln und Kraut. Neugierig erkundigte sie sich, woher die beiden kamen und rief es laut zu den anderen Tischen hinüber. Beifälliges Gemurmel. Wer das Tal besuchte, gehörte zu einem Kreis Eingeweihter, die den Karst dem Meer vorzogen.
Er machte ihr Komplimente und brachte sie zum Lachen. Einmal legte er den Arm um ihre Schulter und küßte sie auf die Wange. Sie erzählte von einem Canyon in ihrer fernen Heimat, in dem es vor
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