Der Todesengel von Florenz
der Geringste unter uns einschätzen. Denn wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht: ›Der Obere wisse, dass beim Jüngsten Gericht die Schuld den Hirten trifft, wenn der Herr an den Schafen zu wenig Nutzen findet!‹«
»Der erste Grad der Demut ist der unverzügliche Gehorsam!«, hielt Pater Angelico ihm sofort entgegen, und es war eine bittere Selbstanklage. »Wegen des heiligen Dienstes, den wir gelobt haben, oder aus Furcht vor der Hölle oder wegen der Herrlichkeit des ewigen Lebens!«
Bruder Bartolo nickte eifrig. »Gewiss, gewiss, Meister! Aber es steht auch geschrieben: ›Wer also das hohe Amt angenommen hat, muss seinen Schülern mit doppelter Belehrung vorstehen, das heißt, er hat alles Gute und Heilige mehr durch Werke als durch Worte zu zeigen!‹«
Das parierte Pater Angelico mit der bedingungslosen Forderung der Ordensregel, indem er zitierte: »›Selbst wenn einem Bruder Unmögliches aufgetragen wird, so heißt es, soll er aus Liebe und Vertrauen auf die Liebe Gottes gehorchen.‹«
»Aber der Prior hat auch ein liebevoller Vater zu sein! Und durch Taten hat er den Titel eines Oberen auszufüllen!«, konterte wiederum Bruder Bartolo und ließ seinem Meister keine Zeit, dem etwas entgegenzusetzen, indem er sogleich fortfuhr: »Auch muss er zu Gott mit reinem Gewissen sagen können: ›Deine Gerechtigkeit habe ich nicht in meinem Herzen verborgen, Deine Wahrheit und Dein Heil habe ich verkündet!‹«
»Richtig, aber du hast das Zitat des Propheten verkürzt und durch das Weglassen des letzten, nicht unwesentlichen Satzes seinen Charakter völlig verändert. Du hast aus einem Klageruf eine reine Beteuerung gemacht!«, rügte Pater Angelico. »Denn was du da so flott unterschlagen hast, lautet doch: ›Sie aber wiesen mich voller Verachtung zurück.‹«
»Verzeiht, das muss mir in der Hitze des Gefechts kurzzeitig entfallen sein!«, wischte Bruder Bartolo den Tadel unbekümmert beiseite. »Dafür bin ich mir aber ganz sicher, dass ich fehlerfrei wie folgt zitiere: ›Ein vorbildlicher Oberer soll vom himmlischen Geist entbrannt sein und den Einflüsterungen und Verlockungen der Welt widerstehen und ebenso seinem hinfälligen Schmuck entsagen.‹« Womit er unmissverständlich auf die allseits bekannte Eitelkeit ihres Priors anspielte, der sich nur zu bereitwillig kostbaren Schmuck und edelste liturgische Gewänder schenken ließ, sowie auf dessen nicht weniger offenkundigen Ehrgeiz, hohe kirchliche Würden zu erringen und sich womöglich eines Tages mit dem Purpur einer Kardinalsrobe schmücken zu können.
Pater Angelico nickte. »Aber selbst Gehorsam wird nur dann Gott wohlgefällig sein, wenn der Befehl nicht aufgeregt, nicht lau, noch mit Murren oder dem Widerspruch des Unwilligen vollzogen wird. Denn wer den Oberen gehorcht, gehorcht Gott, der gesagt hat: ›Wer euch hört, der hört mich!‹«
Der Novize lachte. »Jetzt seid Ihr es, der verkürzt, Meister! Denn dieses Gehorchen, das Jesus verlangte, war auf die Nachfolge seiner Jünger und Apostel und die Lehre unseres Erlösers bezogen, wohl aber kaum auf alltägliche Dinge im menschlichen Miteinander.«
Das vermochte Pater Angelico nicht in Abrede zu stellen, und trotzdem setzten sie ihren Schlagabtausch noch eine Weile fort. Erst als sie das Giardino am Borgo Santissimi Apostoli erreichten, machte der Pater dem Wettstreit um die besseren Argumente ein Ende.
»Genug, lass es gut sein, Bruder Bartolo! Du hast dich redlich geschlagen und bewiesen, dass du die Heilige Schrift, unsere Ordensregel und manch anderen wichtigen Text kennst«, sagte er und war insgeheim gerührt, dass der Novize im Wechselspiel der Argumentation so leidenschaftlich für ihn Partei ergriffen hatte, ohne sich seinerseits jedoch einer Respektlosigkeit gegenüber dem Oberen schuldig gemacht zu haben.
»Heißt das, Ihr überlegt es Euch noch mal?«, fragte Bruder Bartolo hoffnungsvoll und schaute ihn flehentlich an.
»Nein, ich werde es mir nicht noch einmal überlegen. Mein Entschluss ist gefasst.«
Die Bestürzung war Bruder Bartolo augenblicklich anzusehen. »Meister, das könnt Ihr mir nicht …«
Pater Angelico hob die Hand. »Ich muss es mir nicht noch einmal überlegen, weil ich das schon getan habe. Ich bleibe dir als Novizenmeister erhalten. Du hast mich überzeugt. Bei der Rechnung, die du gerade aufgemacht hast, erweist sich die Schuld nämlich als ziemlich ausgewogen verteilt«, erklärte er. »Und jetzt komm! Du siehst aus, als könntest
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