Der Todeskanal
Gesicht starren oder sich hinter Zeitungsbarrieren verschanzen.
Norman schien das nichts auszumachen, und das enttäuschte Livvy ein wenig. Meist hegten sie dieselben Gefühle. Norman hatte stets behauptet, deshalb sei er auch so sicher, das richtige Mädchen geheiratet zu haben.
»Wir passen zueinander, Livvy«, pflegte er zu sagen, »und das ist die Hauptsache. Wenn man die Teile eines Puzzle-Spiels zusammenlegt, dann gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit. Darauf kommt es an. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, und für mich gibt es kein anderes Mädchen.«
Dann lachte sie meist und sagte: »Wenn du an diesem Tag nicht in der Straßenbahn gewesen wärst, hättest du mich wahrscheinlich nie getroffen. Was hättest du dann getan?«
»Ich wäre Junggeselle geblieben, Livvy. Außerdem hätte ich dich durch Georgette an irgendeinem anderen Tag kennengelernt.«
»Das wäre nicht dasselbe gewesen.«
»Doch.«
»Nein. Georgette hätte mich dir nie vorgestellt. Sie war selbst an dir interessiert. Und sie ist nicht der Typ, der sich absichtlich eine Rivalin schafft.«
»Was für ein Unsinn!«
Und dann stellte Livvy ihre Lieblingsfrage: »Norman, wenn du eine Minute später an der Straßenbahnhaltestelle gewesen wärst und die nächste Bahn genommen hättest, was wäre dann geschehen?«
»Was wäre, wenn Fische Flügel hätten und in die Berge flögen? Was würden wir dann am Freitag essen?«
Aber sie waren einander in der Straßenbahn begegnet, und sie aßen Fisch am Freitag.
Und weil sie jetzt schon fünf Jahre lang verheiratet waren, wollten sie das feiern und eine Woche in New York verbringen.
Und dann mußte Livvy wieder an ihr derzeitiges Problem denken.
»Ich wollte, wir könnten einen anderen Platz finden.«
»Bis jetzt ist ja noch niemand zugestiegen, und so werden wir zumindest bis Providence allein sein.«
Livvy fühlte sich dadurch keineswegs getröstet, und sie schien recht zu behalten, als ein untersetzter kleiner Mann den Gang hinabkam. Woher kam er? Der Zug befand sich etwa auf halber Strecke zwischen Boston und Providence, und wenn er einen Platz hatte, warum blieb er dann nicht sitzen? Sie bildete sich ein, der kleine Mann würde vorbeigehen, wenn sie ihn nicht beachtete. Also zog sie ihren Handspiegel aus der Tasche und ordnete ihre hellbraunen Haare, die in der Hast, den Zug noch zu erreichen, etwas zerzaust worden waren. Sie betrachtete ihre blauen Augen und den kleinen Mund mit den vollen Lippen, von dem Norman behauptete, er sehe so aus, als wolle er immer küssen.
Nicht schlecht, dachte sie.
Sie blickte auf, und der kleine Mann saß ihr gegenüber. Er grinste breit, als sie ihn ansah. Sein Gesicht zog sich in Falten. Hastig nahm er den Hut ab und legte ihn neben sich auf eine kleine schwarze Schachtel. Ein weißer Haarkranz umgab eine spiegelnde Glatze.
Sie konnte nicht anders, sie mußte zurücklächeln, aber dann blickte sie noch einmal auf die kleine schwarze Schachtel, und ihr Lächeln erlosch. Sie stieß Norman an. Er blickte von seiner Zeitung auf. Er hatte auffallend schwarze Augenbrauen, die über der Nasenwurzel fast zusammenwuchsen. Das gab ihm ein etwas strenges Aussehen. Aber als er sie jetzt mit seinen dunklen Augen anblickte, war sein Gesicht freundlich wie immer, wenn er sie ansah.
»Was ist denn?« fragte er. Er sah den kleinen untersetzten Mann gegenüber nicht an. Livvy wollte durch möglichst unauffällige Gesten Norman auf ihre Beobachtungen aufmerksam machen. Aber der kleine Mann betrachtete sie interessiert, und sie kam sich wie eine Idiotin vor, besonders, weil Norman sie noch immer verständnislos anstarrte. Schließlich zog sie ihn näher zu sich heran und flüsterte: »Sieh doch, was auf seiner Schachtel steht!« Sie sah noch einmal hin. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Ein glänzender Schriftzug auf dem schwarzen Grund: WAS WENN.
Der kleine Mann lächelte wieder. Er nickte, zeigte auf die Schrift und dann auf sich.
»Muß sein Name sein«, sagte Norman.
»Wie kann denn jemand so heißen?« entgegnete Livvy.
Norman legte die Zeitung beiseite.
»Ich werde es dir beweisen.« Er beugte sich vor und sagte: »Mr. Wenn?«
Der kleine Mann sah ihn eifrig an.
»Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist, Mr. Wenn?«
Der kleine Mann zog eine große Uhr aus seiner Westentasche und zeigte Norman das Zifferblatt.
»Danke, Mr. Wenn«, sagte Norman. Und dann flüsterte er: »Siehst du, Livvy?«
Er hätte sich wieder seiner Zeitung zugewandt, aber
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