Der Todeskanal
der kleine Mann öffnete seine Schachtel und hob Aufmerksamkeit heischend den Zeigefinger. Er nahm eine mattschimmernde Glastafel aus der Schachtel, etwa sechsmal neun Zoll breit und lang und vielleicht einen Zoll dick. Die Tafel hatte schräg abgekantete Ränder und abgerundete Ecken. Sonst war nichts Besonderes an ihr zu sehen. Der Mann holte einen kleinen Drahtständer hervor, in den die Tafel genau hineinpaßte. Er plazierte das Gestell auf seinen Knien und blickte Livvy und Norman stolz an.
Livvy sagte aufgeregt: »Ich glaube, das soll eine Art Bild sein.«
Norman beugte sich vor.
»Soll das eine neue Form des Fernsehens darstellen?«
Der kleine Mann schüttelte den Kopf, und Livvy sagte: »Nein, Norman, das sind wir.«
»Was?«
»Siehst du es denn nicht? Da ist die Straßenbahn, in der wir uns begegnet sind, da bist du auf dem Rücksitz, mit dem alten Filzhut, den ich vor drei Jahren weggeworfen habe. Und da sind Georgette und ich. Da ist die dicke Dame. Siehst du es jetzt?«
»Das ist doch eine Illusion«, murmelte Norman.
»Aber du siehst es auch, nicht wahr? Darum heißt das Ding ›Was, wenn‹. Es zeigt uns, was geschehen wäre, wenn die Straßenbahn nicht so schnell in die Kurve gegangen wäre …«
Sie war sehr aufgeregt. Während sie auf das Glasbild starrte, schien die späte Nachmittagssonne immer schwächer, und das leise Murmeln der Fahrgäste, das aus den Nebenabteilen herüberdrang, verstummte.
Wie gut sie sich an diesen Tag erinnern konnte! Norman kannte Georgette und wollte ihr gerade seinen Platz anbieten, als die Straßenbahn plötzlich stark schwankte und Livvy in seinen Schoß fiel. Sie war schrecklich verwirrt, und er tröstete sie galant. Es war gar nicht mehr nötig, daß Georgette die beiden einander vorstellte. Als sie die Straßenbahn verließen, wußte er bereits, wo Livvy arbeitete.
Sie konnte sich noch gut erinnern, wie Georgette sie angestarrte und mit gezwungenem Lächeln gesagt hatte: »Norman scheint dich zu mögen.«
»Sei nicht dumm!« hatte Livvy geantwortet. »Er war nur höflich. Aber er sieht gut aus, nicht wahr?«
Sechs Monate später waren sie verheiratet.
Und jetzt war hier wieder dieselbe Straßenbahn. Mit Norman, Georgette und Livvy. Die Eisenbahngeräusche, das schnelle Rattern der Räder verschwanden völlig aus ihrem Bewußtsein. Statt dessen war sie in der engen schwankenden Straßenbahn. Soeben war sie mit Georgette eingestiegen.
Mühsam versuchte Livvy, ihr Gleichgewicht zu halten, genau wie die vierzig anderen Fahrgäste, die saßen oder standen und sich alle im gleichen, monotonen Rhythmus hin und her wiegten.
»Da winkt dir jemand, Georgette. Kennst du ihn?«
»Mir?« Georgette warf einen absichtlich beiläufigen Blick über die Schulter. Ihre langen künstlichen Wimpern zitterten. »Ich kenne ihn flüchtig. Was mag er nur von mir wollen?«
»Das werden wir gleich wissen«, sagte Livvy ein wenig boshaft. Georgette war bekannt dafür, daß sie ihre männlichen Bekanntschaften sorgsam vor ihren Freundinnen versteckte, und es machte Livvy Spaß, Georgette zu ärgern. Und außerdem – dieser Mann sah wirklich interessant aus.
Sie zwängte sich zwischen den Fahrgästen hindurch, und Georgette folgte ihr widerstrebend. Gerade als Livvy den jungen Mann erreichte, schwankte die Straßenbahn besonders heftig. Verzweifelt langte Livvy nach den Haltegriffen. Ihre Fingerspitzen berührten das Leder, und eine Sekunde lang verspürte sie das zwingende Gefühl, sich fallen zu lassen. Aber sie klammerte sich fest.
Der junge Mann blickte sie nicht an. Er lächelte zu Georgette auf und erhob sich. Er hatte auffallende dunkle Augenbrauen, die ihm ein sehr selbstsicheres Aussehen verliehen. Livvy stellte fest, daß er ihr ausnehmend gut gefiel.
»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Georgette. »Wir steigen ohnehin nach zwei Stationen aus.«
Und das taten sie auch.
»Ich dachte, wir wollten zu Sach’s gehen«, sagte Livvy.
»Das tun wir auch. Ich muß nur rasch hier etwas erledigen. Es dauert nur eine Minute.«
»Nächste Station Providence!« brüllte der Lautsprecher. Der Zug verlangsamte sich, und die Welt der Vergangenheit schrumpfte auf der Glastafel zusammen. Der kleine Mann lächelte Livvy und Norman noch immer an.
Livvy wandte sich Norman zu. Sie hatte ein wenig Angst.
»Hast du das auch alles gesehen?«
»Wir können doch noch gar nicht in Providence sein!« Normanblickte auf seine Armbanduhr. »Aber es stimmt.« Dann sagte er zu Livvy:
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