Der Todesstoss
gedacht«, fuhr Alessa fort. »Die
Leute sind immer so, überall wo wir hinkommen. Zuerst treiben
sie Handel mit uns und lassen uns Kunststücke vorführen, dann
fangen sie an zu reden, und am Ende jagen sie uns davon.« Sie
lachte bitter. »Weißt du, woher das Wort kommt, mit dem sie
uns bezeichnen? Zigeuner?«
Andrej schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, und auch Abu
Dun hob nur die Schultern.
»Aus dem Deutschen«, sagte Alessa. »Es kommt aus dem
Deutschen, und es heißt so viel wie ziehende Gauner. Und mehr
sind wir auch nicht für sie.«
Andrej sah ihr deutlich an, wie Bitterkeit und die Erinnerung
an das Geschehene sie zu überwältigen drohten, und um sie
abzulenken, fragte er hastig: »Kommt ihr von dort? Aus dem
Deutschen?«
Alessa nickte. »Wir waren dort«, sagte sie. Sie schluckte
einige Male, um die Tränen niederzukämpfen. »Den ganzen
vergangenen Winter über. Auch da haben sie mit Fingern auf
uns gezeigt, und uns davongejagt. Aber sie haben uns
wenigstens nicht verbrannt.«
»Und warum hier?«, wollte Abu Dun wissen. »Was ist
vorgefallen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Alessa. »Gestern Abend
haben sie uns plötzlich gefangen genommen und uns den
Prozess gemacht.«
Andrej tauschte einen fragenden Blick mit Abu Dun. Warum
log sie?
»Einfach so?«, fragte er. »Ohne besonderen Grund?«
»Der Pfaffe hat einige Dorfbewohner zum Schloss geschickt,
und zwei Soldaten sind zu uns gekommen«, sagte Alessa -
womit sie seine Frage ganz eindeutig nicht beantwortete. »Ihr
habt die beiden gesehen.«
»Zum Schloss?« Abu Dun klang alarmiert. »Wo liegt dieses
Schloss?«
»Nicht weit von hier.« Alessa machte eine Geste. »Auf der
anderen Seite des Sees. Wäre es hell, könnten wir es von hier
aus sehen.«
»Oh«, machte Andrej.
»Sind dort noch mehr Soldaten?«, fragte Abu Dun.
»Ich weiß nicht«, antwortete Alessa. »Wir waren nicht dort.
Aber ich glaube schon.«
»Weiter«, sagte Andrej rasch. »Sie haben euch also den
Prozess gemacht.
Unter welcher Anklage?«
Alessa schwieg. Ihr Blick verriet, wie sehr es hinter ihrer
Stirn arbeitete.
»Du traust uns immer noch nicht«, stellte er fest.
»Doch! Das ist es nicht, aber …«
»Das kann ich verstehen«, fuhr Andrej mit einem Nicken fort.
»Ich an deiner Stelle würde nicht anders reagieren, glaube ich.
Aber ich habe etwas, um dich zu überzeugen.«
Er zog seinen Dolch. Die Augen der Zigeunerin weiteten sich
erschrocken.
Statt ihr etwas anzutun, nahm Andrej das Messer jedoch in
die linke Hand und zog die Klinge mit einer kraftvollen
Bewegung über seinen Unterarm. Alessa keuchte und schlug
erschrocken die Hand vor den Mund. Dann wurden ihre Augen
noch größer, als sie sah, wie sich die Wunde binnen weniger
Herzschläge wieder schloss. Für einen Moment war noch eine
dünne, weiße Narbe zu sehen, doch auch diese verschwand.
Andrej steckte den Dolch ein und wischte sich das Blut vom
Unterarm.
»Aber … aber das …«, stammelte Alessa. Sie starrte ihn an,
dann bekreuzigte sie sich.
»Du siehst, ich kenne dein Geheimnis«, sagte Andrej. »Ich
kenne es sehr gut. Ich bin genauso wie du.«
»Dann … dann bin ich nicht die Einzige?«, murmelte Alessa.
»Es gibt noch mehr Menschen wie mich?«
»Nicht sehr viele«, antwortete Andrej. Alessas Blick irrte zu
Abu Dun, und Andrej schüttelte rasch den Kopf.
»Er gehört nicht dazu. Nur ich. Ich habe einige andere
getroffen, aber nur wenige.« Und die meisten hatte er getötet.
»Du bist nicht allein, Alessa.«
»Soll das heißen, du bist noch nie einem anderen Vam …«,
begann Abu Dun, stockte und verbesserte sich: »… einem
anderen Menschen wie dir begegnet?«
Alessa sah unsicher zu ihm hoch. Andrej war sicher, dass ihr
das halbe Wort, dass Abu Dun um ein Haar ausgesprochen
hätte, keineswegs fremd war.
»Ich … ich bin noch nicht … noch nicht lange … so«, sagte sie
stockend.
Nun war Andrej an der Reihe, überrascht zu sein. Und
alarmiert. »Was soll das heißen, du bist noch nicht lange so?«
Das Mädchen hob die Schultern. Ihr Blick verharrte für einen
Moment auf Andrejs nun wieder unversehrtem Unterarm, als
wären die Antworten auf alle Fragen dort zu lesen.
»Erst seit dem letzten Frühjahr«, sagte sie. »Ich war krank.
Viele von uns sind krank geworden. Fast die Hälfte unserer
Familie hat den Winter nicht überlebt, und auch ich habe eine
Woche mit schwerem Fieber gelegen. Ich wäre fast gestorben.
Aber nachdem ich wieder gesund war, da … da war ich so. Es
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