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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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im Gras
zusammen. Sie schlief sofort ein. Andrej sah lange Zeit wortlos
auf sie herab, ehe er seinen Mantel von den Schultern löste und
sie damit zudeckte. Dann ging er zum See, um seine
Wasserflasche zu füllen.
Abu Dun folgte ihm. Als Andrej am Ufer niederkniete und
die Flasche ins Wasser tauchte, fragte er: »Was hat das zu
bedeuten? Ich dachte, ihr werdet nicht krank.«
Andrej hob die Schultern. »Nichts«, sagte er. »Vielleicht ist
sie einfach noch nie zuvor so schwer verletzt worden.«
»Unsinn«, widersprach Abu Dun heftig. »Du selbst bist…«
»Auch meine Wunden heilen heute schneller als vor zehn
Jahren«, unterbrach ihn Andrej. »Vielleicht werden wir immer
stärker, je länger wir …« Er zögerte. »Je länger wir sind, was
wir sind.«
Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht die Erklärung war. Es
entsprach seinen Erfahrungen, aber es war nicht die Erklärung
für Alessas Zustand, der ihm weit mehr Sorgen bereitete, als er
Abu Dun gegenüber zugeben wollte.
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Abu Dun.
»Wir lassen sie eine Weile schlafen, dann reiten wir weiter.«
Andrej verschloss die Flasche und stand auf.
»Es ist vielleicht nicht so klug, bei Tagesanbruch in
Sichtweite dieses Schlosses zu sein, von dem sie gesprochen
hat, o du begnadetster aller Fährtenleser. «
»Ich bin keine Eule, die in der Nacht sehen kann.« Abu Dun
schürzte beleidigt die Lippen. »Das habe ich mit meiner Frage
aber auch nicht gemeint.«
»Sondern?«
»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, antwortete Abu Dun
mit einer verärgerten Kopfbewegung auf das schlafende
Mädchen. »Manchmal ist es ganz leicht, deine Gedanken zu
lesen. Im Moment leuchten sie dir regelrecht aus den Augen.
Du würdest am liebsten jetzt gleich losreiten, um nach dieser
alten Frau zu suchen, habe ich Recht?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Später ist es immer noch früh
genug.«
Abu Dun seufzte. »Spiel keine Spielchen mit mir,
Hexenmeister. Dazu bin ich zu müde.«
»Ein Grund mehr, ein wenig zu schlafen«, versetzte Andrej.
»Sobald es hell wird, reiten wir weiter, und dann können wir
immer noch entscheiden, wohin.
Wer weiß, vielleicht findest du ja bei Tageslicht sogar aus
diesem Wald heraus.«
Abu Dun starrte ihn feindselig an, dann drehte er sich um und
ging. Schon nach wenigen Schritten war er in seiner schwarzen
Kleidung mit der Nacht verschmolzen. Andrej überzeugte sich
noch einmal davon, dass Alessa tief schlief, dann entfernte auch
er sich ein paar Schritte und streckte sich im Gras aus. Es war
kalt. Er fror, und während er einschlief, dachte er voller
Bedauern an den Mantel, den er in einer plötzlichen
Anwandlung von Ritterlichkeit über dem schlafenden Mädchen
ausgebreitet hatte.
Aber es war eine seltsam wohltuende Art von Bedauern.
Er war nicht mehr allein.
Abu Dun weckte ihn. Noch bevor Andrej die Augen
aufschlug, wusste er, dass es noch immer tiefste Nacht war, und
er spürte, dass etwas nicht stimmte.
Mit einem Ruck öffnete er die Augen.
Das Gesicht des Nubiers schwebte über ihm, schwärzer als
der Nachthimmel und von einem Ernst erfüllt, den Andrej schon
lange nicht mehr darin erblickt hatte.
»Alessa«, sagte er.
Andrej sprang so hastig in die Höhe, dass Abu Dun
zurückprallte und ungeschickt auf dem Hinterteil landete. Mit
zwei gewaltigen Sätzen war Andrej bei dem Zigeunermädchen
und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.
Alessa lag auf der Seite und schien zu schlafen. Ihre Augen
waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein friedlich
entspannter, fast schon glücklicher Ausdruck. Sie atmete nicht,
und als Andrej die Hand ausstreckte und sie an der Schulter
berührte, spürte er, wie kalt ihre Haut war.
Hinter ihm stemmte sich Abu Dun ächzend in die Höhe und
kam dann zögernd näher.
»Es tut mir so Leid«, murmelte er. »Aber sie war schon lange
tot, als ich aufgewacht bin. Ich glaube nicht, dass sie gelitten
hat. Wahrscheinlich hat sie gar nichts gespürt.«
Andrej hörte nicht einmal hin. Seine Hand lag noch immer
auf Alessas Schulter, und die Kälte ihrer Haut schien mit jedem
Herzschlag, auf den er vergeblich wartete, zuzunehmen. Er
fühlte sich wie gelähmt. Es war unmöglich. Sie konnte nicht tot
sein! Menschen dieser Art starben nicht einfach so! Niemals!
Niemals!
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Abu Dun. Er ließ sich neben
Andrej in die Hocke sinken und versuchte seine Hand von
Alessas Schulter zu lösen.
Andrej stieß ihn weg. Es war unmöglich! Es

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