Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
Flaschen mit sich. Schließlich erreichte Simon die Treppe zum Dachboden. Das Holz der Stufen war hier noch morscher, und auch die Dielenbretter unter dem löcherigen Dach waren verfault und zum Teil zerbrochen. Das Mädchen war nirgendwo zu sehen.
Simon sah sich suchend um. Er glaubte nicht, dass sie sich hier oben versteckte: Weder sah er einen Ort, der dafür geeignet war, noch glaubte er, dass sie einfach hier warten würde, bis die Polizei kam. Denn dass der Dicke die Polizei holen würde, da war sich Simon sicher.
Sein Blick fiel auf eines der Dachfenster. Es war verschlossen, aber direkt daneben waren mehrere Ziegel verrutscht. Sonnenlicht fiel durch die Öffnung. Vorsichtig ging Simon zudem Loch im Dach, angespannt auf die morschen Dielen starrend. Die Bretter bogen sich, doch sie trugen sein Gewicht. Er hielt sich an einem Dachsparren fest, setzte seinen Rucksack ab und zwängte seinen Oberkörper durch die Öffnung. Geblendet kniff er die Augen zusammen.
Der Ausblick von hier oben war atemberaubend: Rechts von ihm funkelte der blaue Ozean, auf der linken Seite breitete sich ein Meer von Dächern aus. Das Haus, in dem er sich befand, war höher als die umliegenden Gebäude, der Blick ging weit. Selbst das Anwesen des Großvaters war von hier aus zu sehen. Dahinter funkelte die Stadt in der Sonne, mit ihren Hochhaustürmen im Zentrum. Das höchste Gebäude der Stadt, der Tower, blinkte golden zu ihm herüber.
Suchend schaute Simon sich um. Einen Moment lang glaubte er, sich geirrt zu haben, doch dann hörte er ein spöttisches Lachen. Das Mädchen saß auf dem Dach des Nachbarhauses und blickte grinsend zu ihm herüber. Sie winkte ihm zu, dann sprang sie auf, balancierte ein kleines Stück auf dem First entlang, rutschte eine Dachschräge hinab und landete auf einer Terrasse darunter. Herausfordernd drehte sie sich um. »Viel Spaß mit dem Dicken, Schisser!« Abwartend blickte sie zu ihm, um zu sehen, was er tun würde.
Simon zögerte. Tatsächlich hörte er die Schritte des Dicken unten im Haus, ihr Verfolger machte sich gerade leise fluchend daran, die Treppe hinaufzusteigen. Zwar war Simon davon überzeugt, dass die Treppendielen das Gewicht des Dicken niemals aushalten würden – für den Moment war er hier oben sicher. Doch die Worte und mehr noch der Blick des Mädchenshatten ihn herausgefordert. Sie sollte bloß nicht glauben, dass er Angst hätte, ihr nachzuklettern!
Natürlich hatte er Angst, doch das würde er niemals zugeben.
»Was ist? Traust du dich nicht?«
Simon biss die Zähne zusammen. Er drückte sich hoch und stemmte seine Beine durch die Öffnung, bis er rittlings auf dem Dachfirst saß. Der Wind vom Meer pfiff ihm um die Ohren und blies ihm die Haare ins Gesicht. Simon merkte, wie es in seinem Magen kribbelte. Er angelte seinen Rucksack aus der Öffnung und setzte ihn auf, dann holte er tief Luft und schob sich langsam vorwärts bis zum Ende des Firsts, um von dort auf das etwas tiefer gelegene Nachbardach zu klettern. Das Mädchen schaute ihm interessiert zu. Vorsichtig robbte er weiter bis zu der Dachschräge oberhalb der Terrasse, dann ließ er sich herabrutschen. Er landete direkt vor ihr.
Für einen Augenblick standen sie sich gegenüber. Simon sah in ihre Augen: Sie waren dunkelbraun, ein kleiner goldgelber Schimmer umgab die Iris. Ihre Wimpern waren lang und an den Spitzen hell.
Das Mädchen grinste. Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie sich umgedreht und war über das Geländer der Dachterrasse geklettert. Mit einem Sprung landete sie auf einem tiefer gelegenen Flachdach. Kurz blickte sie zu ihm zurück, dann lief sie weiter. Simon folgte ihr.
Ihre Flucht führte sie über eine Reihe von flachen oder mäßig schrägen Dächern und über verschiedene Dachterrassen. Simon war froh, dass er nicht erneut über einen Dachfirst robben musste, um ihr zu folgen. Mit der Zeit wurde er geschickter und traute sich mehr zu. Einmal glaubte er, einen anerkennenden Blick von ihr zu erhaschen. Doch es gelang ihm nicht, sie einzuholen, der Rucksack auf seinem Rücken behinderte ihn, außerdem war sie einfach schneller als er.
Auf einmal stoppte sie ihren Lauf. Vor ihr, am Ende des Daches, öffnete sich eine Lücke im Dächermeer, wie eine Felsspalte in einem Berg. Die Häuserreihe war hier zu Ende, eine schmale Gasse führte unten entlang. Das Mädchen sah zurück zu Simon und schien kurz zu überlegen, aber ehe er ihr zurufen konnte, sie solle stehen bleiben, war sie schon wieder
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