Der Tote am Steinkreuz
zahlen.«
Muadnats Gesicht wurde kreidebleich vor Zorn.
»Das ist eine Ungerechtigkeit!« murrte er.
Fidelma ließ sich von seiner Wut nicht erschüttern.
»Rede mir nicht von Ungerechtigkeit, Muadnat. Du bist mit diesem jungen Mann verwandt. Als seine Mutter starb, wäre es deine Pflicht gewesen, für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Du hast versucht, ihm das zu nehmen, was ihm nach dem Gesetz zustand, hast ihn ohne Bezahlung für dich arbeiten lassen und ihn gezwungen, schlechter zu leben als ein Sklave. Ich bin nicht sicher, ob du überhaupt weißt, was Gerechtigkeit ist. Es wäre gerecht, wenn ich dich verurteilte, ihm eine Entschädigung für das zu zahlen, was du ihm angetan hast. Mein Urteil ist noch gnädig ausgefallen.«
Die kalten Worte Fidelmas ließen den Mann zusammenzucken, als habe ihn der Strom ihrer Verachtung körperlich getroffen.
Er schluckte schwer.
»Ich werde bei meinem Fürsten Eber von Araglin Einspruch gegen dieses Urteil erheben. Das Land gehört mir! Du wirst noch von mir hören.«
»Ein Einspruch kann nur beim Obersten Richter des Königs von Cashel eingelegt werden«, unterbrach ihn der Gerichtsschreiber trocken, während er das Urteil ausfertigte. Er legte seinen Schreibgriffel beiseite und bemühte sich, es dem verärgerten Beklagten zu erklären. »Wenn ein Brehon ein Urteil fällt, gehört es sich nicht für dich, den Brehon zu beschimpfen. Falls du Einspruch einlegen willst, mußt du das in gebührender Form tun. Inzwischen, Muadnat vom Schwarzen Moor, bist du an das Urteil gebunden und mußt das Land deinem Vetter Archú überlassen. Kommst du dem nicht binnen neun Tagen nach, kannst du mit Gewalt davon vertrieben werden. Ist dir das klar? Und deine Strafe von einem cumal muß bis zum Aufgang des nächsten Vollmonds entrichtet sein.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Muadnat ab und schritt rasch und schweigend aus der Kapelle. Ein kleiner muskulöser Mann mit einer kastanienbraunen Mähne erhob sich und folgte ihm verlegen.
Archús Miene zeigte, daß er dem Urteil kaum glauben konnte. Er beugte sich über den Tisch vor, ergriff Fidelmas Hand und schüttelte sie kräftig.
»Gott segne dich, Schwester. Du hast mir das Leben gerettet.«
Fidelma schenkte dem begeisterten jungen Mann ein dünnes Lächeln.
»Ich habe lediglich ein Urteil nach dem Gesetz gefällt. Hätte das Gesetz anders gelautet, hätte ich gegen dich urteilen müssen. Im Gericht spricht das Gesetz, nicht ich.«
Sie entzog ihm ihre Hand. Der junge Mann schien ihr kaum zugehört zu haben, denn jetzt wandte er sich, immer noch freudig lächelnd, ab und lief in den Hintergrund der Kapelle, wo ein junges Mädchen sich erhob und ihm fast in die Arme stürzte. Fidelma lächelte wehmütig, als sie sah, wie die beiden jungen Menschen sich an den Händen hielten und anschauten.
Dann wandte sie sich rasch ihrem Gerichtsschreiber zu.
»Ich glaube, das war der letzte Fall, den wir zu verhandeln hatten, nicht wahr, Bruder Donnán?«
»Ja. Ich trage die Urteile heute noch ein und sorge dafür, daß sie in gebührender Form bekanntgemacht werden.« Der Gerichtsschreiber hielt inne, räusperte sich und senkte die Stimme. »Ich glaube, der Abt steht an der Tür und möchte dich sprechen.«
Mit einer nervösen Kopfbewegung wies er auf die Tür der Kapelle. Fidelma wandte sich um. Tatsächlich wartete der breitschultrige Abt Cathal dort an der Tür. Fidelma stand sofort auf und ging zu ihm hin.
»Suchst du mich, Pater Abt?«
Abt Cathal war ein wohlgebauter, kräftiger Mann in mittlerem Alter mit einer militärischen Haltung, denn in seiner Jugend war er zum Krieger ausgebildet worden. Er stammte aus dieser Gegend und hatte die militärische Laufbahn aufgegeben, sich unter der Leitung des heiligen Cáthach in Lios Mhór religiös unterweisen lassen und war zu einem anerkannten und hervorragenden Lehrer und Abt aufgestiegen. Cathal war der Sohn eines großen Kriegsfürsten, aber er hatte seinen ganzen Reichtum unter den Armen seines Stammes aufgeteilt und lebte in der bescheidenen Armut seines Ordens. Sein einfaches und direktes Handeln schuf ihm auch Feinde. Einmal hatte ein Fürst dieser Gegend, Maelochtrid, ihn gefangengesetzt unter der vorgeblichen Beschuldigung, er betreibe Zauberei. Doch nach seiner Freilassung hatte Cathal ihm vergeben. Ein solcher Mensch war er.
Fidelma mochte Cathal, weil er so sanftmütig und frei von jeder Eitelkeit war. Damit stand er in einem erfreulichen Gegensatz zu dem Hochmut im
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