Der Tote im Grandhotel
gehörten für Richard, den Sohn eines kleinen Beamten, zum Luxus, den er sich jetzt erlauben durfte. Und zu diesem Wohlgefühl gehörte auch der Drink vor dem Essen, den Lucie und er im Wintergarten nahmen, wo Unmengen tropischer Pflanzen Urlaubsstimmung vorgaukelten.
Bei Tisch servierte Anton Brant die Mahlzeiten, die seine Frau Gerlinde kochte, buk und briet. Ehepaar Brant, das in einem Seitenflügel der Hornungschen Villa wohnte, sorgte für die Universalbetreuung seiner Arbeitgeber. Er chauffierte auch bei Bedarf. Sie leitete Putzfrau und Gärtner an, kümmerte sich um Einkauf und Küche, während ihr Anton für den Weinkeller zuständig war.
Jetzt präsentierte Anton mit Grandezza die Hauptschüssel: Tafelspitz, mit Gemüsen umlegt. Mit drei Saucen folgte ihm Gina, das Mädchen mit Abitur, das sich hier Geld für die Ausbildung zur Kunsttischlerin verdiente. Das sagte Gina jedenfalls. Sie war die Tochter eines Italieners und einer Deutschen, die mit neuen Partnern lebten und sich nicht um ihre beiden Töchter kümmerten. Gina selbst scheute feste Bindungen und wohl auch ein festes Lebenskonzept.
Richard konnte nie umhin, ihren besonders hübschen Po zu bewundern, und sie wußte es und servierte ihn schnuckelig zu allen Mahlzeiten.
Selbstverständlich hätte Richard niemals eine Liebschaft im eigenen Hause angefangen. Gina war wenig älter als Angela. Kein grundsätzlicher Hinderungsgrund. Aber nicht im Kirchspiel!
»Ich war heute in der Kunstausstellung ›Neue Amerikaner‹«, berichtete Lucie.
»Und?«
»Na ja. Immerhin gab es Warhols und Rauschenbergs. Man dachte doch beinahe schon, sie wären nur Illustrationen in Zeitschriften. In natura sind sie eindrucksvoller. Zwei Koons waren da. Diese Porzellangruppe, wo er mit seiner angetrauten Nymphe schläft. Jetzt sind sie längst geschieden, aber hier ist ihr Geschlechtsverkehr für eine Ewigkeit festgehalten.«
»Merkwürdig. Diese kleine Prostituierte, die so viel von sich reden machte? Das Werk möchte ich nicht im Hause haben, obwohl es zumindest originell wäre.«
»Ich mag Sachen nicht, deren Preis den Grad ihrer Wertschätzung bestimmt.«
»Es sollte umgekehrt sein.«
Friedliche Stimmung. Gepflegtes Heim. Gina räumte die Teller ab. Von rechts. Anton stellte Schälchen aus Kristall für den Nachtisch hin und brachte die Schale mit in Weißwein gedünsteten Pfirsichen.
»Ah, Pêche Cardinal«, sagte Richard und dachte: Wolf im Schafspelz! Du spielst hier heile Welt und kommst aus dem Bett der anderen. Duft und Schweiß der fremden Frau, nur oberflächlich abgeduscht.
Und während er an Britta dachte, meldete sein Körper die Sehnsucht nach ihr. Er mußte sie wiedersehen. Er brauchte es! Natürlich wollte er Lucie nicht verletzen, obwohl sie ihn manchmal mit ihrer kühl bestimmten Art zur Weißglut brachte.
Nicht einmal sich selbst gestand er ein, daß er Angst vor Lucie hatte. Nicht im Bett, da war er immer noch der King. Aber auf anderen Gebieten dominierte Lucie. Sie war selbstsicher, spielte besser Golf als er, wußte, wen man wozu einlud und wen überhaupt nicht. Und sie heuchelte nicht, wenn es um guten Geschmack ging. Sie hatte ihn. In ihren Kreisen wurde man selbstsicher geboren.
Sogar ein Dummkopf mit erstklassiger Kinderstube genoß mehr Ansehen als der tüchtige Kerl aus dem Kleinbürgertum. Richard wußte, daß sie ihn ›Landei‹ und ›Erbschleicher‹ nannten, hinter seinem Rücken, aber nicht so leise, daß er es nicht vernommen hätte.
Gewiß, er hatte sich durchgesetzt. Niemand schnitt ihn. Keiner schlug mehr diesen herablassend jovialen Ton an, den sie für Emporkömmlinge parat hatten. Doch er konnte nicht wirklich sicher sein. Nie! Wenn etwas geschah, würden sie ihn fallenlassen. Wenn Lucie sich von ihm abwandte, konnte er sehen, wo er blieb.
Aber es funktionierte ja. Er hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Warum nur war er bereit, alles aufs Spiel zu setzen für diese kleine Abenteuerin, die er doch kaum kannte?
Natürlich war es der Sex. Dieses ganz und gar Animalische. Das Stammhirn triumphierte. Kampf und Liebe hatten ihren eigenen Motor. Auch bei Lucie? Er konnte es sich nicht vorstellen.
»Ich gehe nachher zu meinem Bridge-Abend«, sagte sie gerade. »Dabei wollen wir auch gleich den nächsten Bazar für unsere Spastis besprechen.«
Das war typisch Lucie. Sie engagierte sich in Wohltätigkeitsunternehmungen und sozialer Arbeit, und die Behinderten, die dort betreut wurden, nannte sie ›Spastis‹.
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