Der Tote im Schnee
Bekanntenkreis suchen. Es dürfte ihnen keine größeren Probleme bereiten, rasch herauszufinden, wer dazu gehörte.
Und das Motiv? Bea hatte Geld gesagt, Riis dagegen Rauschgift vorgeschlagen, doch das hatte Ottosson zurückgewiesen. John Jonsson sei kein Dealer gewesen, hatte er behauptet. Der Leiter des Kommissariats glaubte zu wissen, daß der Ermordete Rauschgift verabscheute.
Haver neigte dazu, Geld als Motiv anzunehmen. Eine alte Schuld, die nicht beglichen worden war, ein Geldeintreiber, der völlig die Kontrolle verloren, sich vielleicht provoziert gefühlt hatte? Er würde Sammy bitten, eine Liste bekannter Geldeintreiber zusammenzustellen. Haver kannte einige von ihnen, vor allem Sundin aus Gävle, der gelegentlich ein Gastspiel in Uppsala gab, genau wie die Gebrüder Häll und der sogenannte »Gymnastikdirektor«, ein Bodybuilder mit einer Vergangenheit in Karatekreisen. Gab es noch andere? Sammy wußte es bestimmt.
Schulden. Es muß sich um einen hohen Betrag handeln, wenn er Grund für einen Mord sein kann, überlegte Haver weiter. Was ist ein »hoher Betrag«? Hunderttausend, eine halbe Million?
Plötzlich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß der Mörder in diesem Moment unter Umständen genau wie er die Tageszeitung las. Im Gegensatz zu den Journalisten und der Polizei kannte er die ganze Geschichte. Eigentümlich berührt von diesem Gedanken stand Haver auf und ging zum Fenster. Es schneite. In einigen Fenstern auf der anderen Straßenseite war Licht.
Hielt er sich vielleicht dort auf, in einer dieser Wohnungen?
Haver schnaubte über seine Idee, konnte die Vorstellung jedoch nicht fallenlassen. Sie gefiel ihm und gefiel ihm auch wieder nicht. Er mochte sie, weil es bedeuten würde, daß der Mörder nicht ruhig schlief, sich nicht sicher fühlte, daß er besorgt las, die Polizei habe »gewisse Spuren gesichert«. Zum hundertsten Mal ging der Täter in Gedanken durch, wie er den Toten oder Sterbenden nach Libro verfrachtet hatte. Waren Spuren zurückgeblieben, hatte er etwas vergessen? Vielleicht gab es ja irgendein klitzekleines Detail, das er übersehen hatte, die Ahnung eines Fehlers, die ihn in der Frühe beunruhigte.
Haver mißfiel hingegen die Vorstellung, daß es dem Mörder freistand, die Zeitung zu lesen, einen Kaffee zu trinken, in den Morgen hinauszutreten, sich ins Auto oder sogar in ein Flugzeug zu setzen, um – für Haver unerreichbar – zu verschwinden.
»Bleib schön, wo du bist«, murmelte er.
»Hast du was gesagt?«
Rebecka stand in der Tür. Er hatte nicht gehört, daß sie aufgestanden war. Sie trug das grüne Nachthemd. Ihre Haare waren zerzaust, und sie sah nicht ausgeruht aus. Er nahm an, daß sie die Kleine im Laufe der Nacht gestillt hatte.
»Ich habe mit mir selber geredet«, sagte er. »Ich lese den Artikel über den Mord.«
Rebecka gähnte und verschwand in der Toilette. Haver räumte seinen Teller weg und stellte die Kaffeemaschine an. Wieder hatte er gemischte Gefühle. Der morgendliche Frieden war dahin, und damit auch die Möglichkeit zu ruhigem Spekulieren, aber gleichzeitig hatte er Rebeckas Gegenwart und Nähe immer geliebt, nicht zuletzt am frühen Morgen.
Dieses Gefühl rührte aus seiner Kindheit her. In seinem Elternhaus war es morgens stets eigentümlich still zugegangen, und die Familienmitglieder hatten die Möglichkeit gehabt, einander in aller Ruhe zu begegnen. Sie waren eine seltsame Familie gewesen, denn es gab unter ihnen keinen Morgenmuffel. Im Gegenteil, es war einem fast so vorgekommen, als wollten sich alle gegenseitig darin übertreffen, sich morgens von der besten Seite zu zeigen.
Haver hatte versucht, diese Stimmung auch mit Rebecka zu schaffen, obwohl sie morgens oft noch gar nicht richtig anwesend war. Er servierte ihr Kaffee, Toasts und, bevor sie schwanger wurde, gekochte Eier und Salz. Seit der Schwangerschaft ertrug sie den Geruch von Eiern nicht mehr.
Er aß sein Frühstücksei deshalb mit konstant schlechtem Gewissen, aber so weit wollte er seine Anpassung dann doch nicht treiben, daß er darauf verzichtete.
Rebecka kam von der Toilette zurück. Sie lächelte und zerzauste ihm das Haar.
»Wie du aussiehst«, sagte sie.
Er fing sie ein, zog sie an sich und umarmte sie, die Nase in ihren Bauch gedrückt, und wußte, daß sie über seinem Kopf in der aufgeschlagenen Zeitung las. Er hingegen sog ihren Duft ein und vergaß für einen Moment die schwarzen Überschriften.
9
Modig nahm den Anruf um 7.35 Uhr entgegen. Er
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