Der Tote im Schnee
entzückt, als er ihre Stimme hörte. Lindell fühlte sich ertappt. Sie bekam eine Zusammenfassung der Lage. Wie sie vermutete, hatten ihre Kollegen bisher kaum Anhaltspunkte. Vom kleinen John hatte sie noch nie etwas gehört, um so mehr von seinem Bruder Lennart. Daß Sammy ihn verhörte, war in ihren Augen keine besonders gute Entscheidung. Die beiden waren nie richtig ins Gespräch miteinander gekommen. Aber Ann teilte ihre Bedenken nicht mit.
Als sie Ottossons Bericht lauschte, empfand sie große Sehnsucht. Sie hörte seiner Stimme an, daß er in Eile war, aber er nahm sich trotzdem Zeit, länger mit ihr zu sprechen. Lindell saß am Küchentisch. Unwillkürlich hatte sie einen Notizblock herangezogen und sich die Informationen über den Mord und die Ermittlungen notiert.
Sie sah alles genau vor sich, die morgendliche Besprechung, die Kollegen, die sich über ihre Schreibtische beugten, den Telefonhörer in der Hand oder auf einen Bildschirm starrend. Haver mit seinem offenherzigen Gesicht, Sammy mit seinem etwas lässigen Stil, Fredriksson, der ins Nichts blickte, während er sich an der Nasenspitze zupfte, Lundin, bestimmt mit eingeseiften Händen auf der Toilette, Wende in Datenbänken suchend, Beatrice verbissen und zielstrebig Listen mit Namen und Adressen durchgehend, und schließlich Ryde, den schroffen Kriminaltechniker, nachdenklich und sehr klug hinter seiner griesgrämigen Fassade.
Natürlich wollte sie zurück, und zwar bald.
Das Würmchen meldete sich. Unbewußt faßte sie sich an die Brüste und stand vom Küchentisch auf. Worum ging es wohl bei diesem Mord, dachte sie. Rauschgift? Schulden? Eifersucht? Sie schaute ein letztes Mal auf die Notizen, ehe sie mit zögernden Schritten zu ihrem Kind ging.
Das Baby lag auf dem Rücken und fixierte einen Punkt an der Decke oder die bunten Glöckchen, die über der Wiege hingen. Ann sah es an. Das Würmchen. Sein Blick wurde von ihrer Gestalt angezogen, und der Kleine ließ ein schwaches Wimmern hören.
Als sie ihn heraushob, fiel das Köpfchen gegen ihren Hals. Der Geruch, eine eigentümliche Mischung aus süß und sauer, die von dem knubbeligen Babykörper an ihrer Brust aufstieg, ließ sie ihn vorsichtig umarmen und kindische Worte murmeln.
Ann Lindell legte den Kleinen sacht in das ungemachte Doppelbett, knöpfte sich die Bluse auf, öffnete den Still-BH und legte sich neben ihren Sohn. Er wußte, was jetzt kam, und ruderte erwartungsvoll mit den kurzen Armen.
Das Würmchen saugte eifrig, während Ann sich zurechtlegte. Sie strich ihm über das flaumige Haar und schloß die Augen. Sie dachte an Lennart Jonsson und seinen Bruder.
12
Vincent Hahn erwachte gegen halb zehn. Es war sein Bingotag. Obwohl er es eilig hatte, hielt er sich einen Moment bei Julia auf und streichelte ihren festen Hintern. Am Abend würde er ihr einen neuen Slip anziehen. Er beschloß, bei Lindex, seinem Lieblingsgeschäft, einen zu stehlen. Wenn möglich, einen dunklen, aber keinen schwarzen.
Die aufrechte Haltung der Schaufensterpuppe störte ihn manchmal, da es ihm vorkam, als würde sie ihn bewachen. Wenn ihn das zu sehr ärgerte, stieß er sie um und ließ sie ein oder zwei Tage auf dem Boden liegen. Dann war sie nicht mehr so aufmüpfig.
Er hatte eine schwere Nacht hinter sich. Reue existierte im Grunde nicht in Vincents innerem Arsenal von Gefühlen; es war dieses Geräusch gewesen, das ihn gestört und bis in die frühen Morgenstunden verfolgt hatte.
Er aß Sauermilch, immer Sauermilch, zwei Teller. Sauermilch war rein.
Der Bus hatte dreißig Sekunden Verspätung, doch der Fahrer lächelte Vincent nur an, als er ihn darauf hinwies. Alle Fahrer der Linie kannten Vincent Hahn. Während seines ersten Jahres in diesem Viertel hatte er über die einzelnen Fahrer Buch geführt, wie sie die Zeiten einhielten, ob sie höflich waren oder nicht, wie sie fuhren. Die Ergebnisse, die er mittels eines ausgeklügelten Systems zusammengestellt hatte, waren der Geschäftsführung von Uppsala-Bus in einem Schreiben präsentiert worden.
Die Antwort des Unternehmens hatte ihn wütend gemacht. Wochenlang schmiedete er Rachepläne, doch wie so oft verlief sich das Ganze im Sand.
Jetzt war er stärker und bereit, die Sache durchzuziehen. Worin der Unterschied zu damals bestand, wußte er nicht, er fühlte sich einfach besser gerüstet. Nun hatte er nicht nur das Recht, sondern auch die Kraft, seine Pläne in die Tat umzusetzen.
Gestern abend hatte er damit begonnen. Ein
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