Der Tote im Schnee
meldete sich, lauschte und beendete das Gespräch mit »Okay«.
»Sie sind gleich da«, erläuterte er, machte einen Schritt Richtung Tür, drehte sich dann jedoch noch einmal um und sah Lindell an.
»Willst du dabei sein?«
»Wobei?«
»Bei dem Verhör mit Mattias.«
»Ich habe das Würmchen hier«, erwiderte sie und nickte. Erst jetzt entdeckte Sammy den Kinderwagen.
»Erik kann bei mir bleiben«, sagte Ottosson.
22
Vincent erwachte um halb fünf. Vivan hatte die Couch im Nähzimmer für ihn bezogen, und er blieb lange liegen und betrachtete die Nähmaschine, die Garnrollen, die farblich von dunkel bis hell in einem Wandregal aufgereiht standen, und den Zuschneidetisch mit schwarzem Stoff darauf, den sie an die Wand geschoben hatte.
Die Kopfschmerzen waren endlich abgeklungen. Die Wunde an der Stirn hatte seine Schwägerin gesäubert.
»Du bist die einzige, die mich reinläßt«, hatte er gesagt, und Vivan hatte sich von seinen Worten und dem traurigen Anblick, den er bot, erweichen lassen.
Er ging in den Flur. Die Zeitung hing im Briefschlitz, und er zog sie vorsichtig heraus. Es stand auf Seite drei. Vincent Hahn wurde »unberechenbar« und »psychisch gestört« genannt. Die zweiundvierzigjährige Frau hatte keine körperlichen Schäden davongetragen, aber einen Schock erlitten. Die Polizei bat die Öffentlichkeit um ihre Mithilfe bei der Suche nach dem Täter.
Er stopfte die Zeitung zuunterst in den Mülleimer. Das Schlafzimmer seiner Schwägerin grenzte an die Küche, und er bewegte sich so vorsichtig wie möglich. Er erinnerte sich noch, wie mürrisch sie früher in den Morgenstunden sein konnte, und nahm an, daß sich daran nichts geändert hatte. Tatsächlich hatte er über zwanzig Jahre nicht mehr mit ihr unter einem Dach geschlafen.
Er setzte Teewasser auf und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Die Polizei würde seine Wohnung sicher überwachen. Er konnte vielleicht noch eine, höchstens zwei Nächte bei Vivan bleiben. Dann würde sie bestimmt anfangen, grantig zu werden. Er mußte einen Plan haben. Was war mit Bernt, mit dem er sich in der Bingohalle des öfteren unterhielt, vielleicht konnte der ihm ja helfen. Als erstes mußte er sich jedoch Geld besorgen.
Falls Gunilla Karlsson glauben sollte, ihm entkommen zu sein, irrte sie sich gewaltig. Vincent Hahn konnte man einmal hereinlegen, aber nicht zweimal. Er würde es ihr mit gleicher Münze heimzahlen, dieser teuflischen Hexe. Je länger er über die Ereignisse des Vorabends nachdachte, desto entschlossener war er, sich zu rächen. Zehnfach sollte sie bestraft werden.
Um halb sieben stolperte Vivan in die Küche. Es schien fast, als hätte sie vergessen, daß ihr Schwager da war, denn sie starrte ihn sekundenlang völlig verständnislos an. Vincent sagte nichts, sondern starrte zurück.
»Wie geht es dir?« fragte sie schließlich, wartete seine Antwort jedoch nicht ab, sondern ging ins Badezimmer. Vincent hörte sie pinkeln und anschließend das Plätschern der Dusche.
»Wie lange bleibst du?« erkundigte sie sich, als sie in ein Badehandtuch gehüllt wieder herauskam.
Vincent saß noch immer am Küchentisch. Die Kopfschmerzen waren wieder stärker geworden. Seine Schwägerin machte es ihm leicht. Er brauchte das Thema nicht selber anschneiden.
»Ein oder zwei Nächte«, sagte er. »Ich habe noch ein bißchen Angst davor, allein zu sein, aber ich bleibe natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung ist.«
Sie war erstaunt über seinen milden Ton. So sanft hatte sie ihn noch nie sprechen gehört.
»Das geht schon in Ordnung«, meinte sie leichthin.
Sie verließ die Küche, und Vincent entspannte sich zum ersten Mal seit dem Vortag. Er hörte sie Kommodenschubladen aufziehen und einen Kleiderschrank öffnen. Warum hat sie keinen neuen Mann, dachte er.
»Hast du die Zeitung genommen?«
»Nein, ich dachte, du bekämst keine.«
»Das aber auch nie was funktioniert, wie es sollte«, sagte sie überraschend scharf.
»Ich glaube, ich lege mich noch was hin«, meinte er. »Ich war schon so früh wach, und die Kopfschmerzen wollen einfach nicht weggehen.«
Vincent Hahn empfand fast so etwas wie inneren Frieden. Es kam ihm so vor, als wären seine Schwägerin und er ein Paar, oder jedenfalls sehr gute Freunde, die am Morgen ein wenig miteinander plauderten.
»Ich kann dir was Geld geben.«
»Du spinnst wohl«, erwiderte Vivan, die wieder in die Küche gekommen war. »Leg dich jetzt hin, dann werde ich hier
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