Der Tote vom Maschsee
Mann hinterherläuft.
Oft überlege ich, ob Sie mich auch getötet
hätten, so wie das andere Mädchen, wenn ich nicht geflohen wäre. Und das,
obwohl ich Ihnen nie etwas getan habe. Sie kannten mich ja gar nicht.
Dennoch habe ich Ihnen verziehen, und Sie
haben ja auch Ihre Strafe bekommen. Wenn Sie aus dem Gefängnis entlassen
werden, dann müssen Sie versuchen, ein besserer Mensch zu werden. Das sind Sie
mir und dem anderen Mädchen schuldig. Ich möchte Ihnen nur noch sagen, dass ich
keine Angst mehr vor Ihnen habe, denn ich lebe jetzt in einer ganz anderen
Stadt.
Der Brief ist von Hand auf schwach liniertes Papier
geschrieben, vermutlich mit einem Füller, so weit man das auf dem Fax erkennen
kann. Er trägt kein Datum und ist nicht unterzeichnet.
Völxen nimmt sich noch einmal die Unterlagen von Offermann vor. Er
hält Liliane Fenders handgeschriebenen Lebenslauf neben die Briefkopie. Die
Schrift von Liliane Fender ist steil, harmonisch und flüssig, die des Briefes
ist rund, etwas linkslastig, und es klaffen Lücken zwischen den Buchstaben. Als
hätte die Schreiberin noch mitten im Wort gezögert, ob sie es beenden soll.
Völxen bittet Oda zu sich ins Büro.
»Das ist nicht der Stil Liliane Fenders, oder?«, fragt er, nachdem
Oda den Text gelesen hat.
»Niemals«, bestätigt Oda. »Und die Schrift auch nicht.«
»Dass er ein so belastendes Schriftstück überhaupt aufbewahrt«,
wundert sich Völxen.
»Eitelkeit«, konstatiert Oda und setzt hinzu: »Das mit der ganz anderen Stadt liest sich wie eine Schutzbehauptung.
Die hat noch immer Angst.«
»Warum hat sie wohl diesen Brief geschrieben?«, rätselt Völxen und
gibt sich gleich selbst die Antwort: »Womöglich eine therapeutische MaÃnahme.
Womit wir wieder bei unserer lieben Dr. Fender angekommen wären.«
Das Telefon klingelt, Völxen fährt wie elektrisiert aus seinem Stuhl
hoch und reiÃt den Hörer von der Gabel â »Völxen.«
»Hier spricht Ewald Osterholz.« Die Stimme des Ex-Polizisten klingt
munter und etwas erregt. »Ich habe den Namen.«
»GroÃartig.«
»Ich musste gar nicht die Kollegen fragen. Mir ist nämlich in der
Nacht noch eingefallen, dass der Vater des Mädchens damals evangelischer
Pfarrer war, und da habe ich einfach gleich heute früh bei der Pfarrgemeinde
angerufen und gefragt, wie der Pastor hieÃ, der im Jahr â90 in Gehrden Dienst
getan hat.«
»Und, wie hieà er?«, fragt Völxen mit Engelsgeduld.
»Er hieà Eberhard Wenzel. Natürlich, ich habe mich sofort erinnert.
Die Tochter hieà Elise.«
»Ich bin dir was schuldig«, sagt Völxen. »Vielen Dank, Kollege.«
»Dafür nicht«, sagt Ewald Osterholz stolz und legt auf.
»Oda, sagt dir der Name Elise Wenzel etwas?«
»Klar doch«, antwortet Oda nach zwei Sekunden des Nachdenkens.
»Elise Wenzel ist eine der beiden Frauen, die Irene Dilling zu Offermanns
Vortrag begleitet haben. Unser Küken hat am Freitag mit Elise Wenzel
gesprochen, und wie ich sie kenne, hat sie die Aktennotiz fein säuberlich
abgeheftet. Du solltest öfter mal einen Blick in die Akte werfen, Chef.«
»Scheint keiner da zu sein«, stellt Fernando vor der Tür
zu Elise und Gertrud Wenzels Wohnung fest.
Jule schaut durch die Klappe des Briefschlitzes. »Alles ruhig da
drin. Dann werden wir mal in den Zoo gehen.«
»Nicht schon wieder«, stöhnt Fernando. »Ich war erst vorgestern mit
meinem Neffen da.«
»Dann kennst du dich ja aus«, meint Jule. »Sie arbeitet bei den
Pinguinen und den Seelöwen, soviel ich weiÃ.«
Wieder einmal fährt Fernando in sehr flottem Tempo durch die Stadt,
erst an der Adenauerallee schaltet er Blaulicht und Sirene wieder aus. »Wir
wollen sie ja nicht warnen«, meint er.
Jule nickt erleichtert.
An der Pforte zeigen sie ihre Dienstausweise und werden eingelassen.
Es ist wenig los um diese Zeit, ein paar Rentner, Mütter mit Kleinkindern und
zwei Schulklassen sind unterwegs.
»Ich mochte als Kind am liebsten die Flusspferde«, erinnert sich
Jule, während sie mit weit ausgreifenden Schritten neben Fernando herhastet.
»Sie haben ein Junges, ein Männchen, neun Monate alt. Rico und ich
haben ihn quasi aufwachsen sehen«, berichtet Fernando.
»Du scheinst ein toller Onkel zu sein.«
»Ja, ich glaube schon«,
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