Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
anderen standen zwei Einzelbetten, ein Nachttisch, aber keine weiteren Möbel.
Das Wohnzimmer hatte diesen Namen streng genommen nicht verdient. Eine verschlissene Sitzgarnitur aus Stoff in Streifenmuster, von der einzelne Fäden wie Würmer herunterhingen, ein runder Tisch aus Plexiglas mit drei leeren Gläsern darauf und – ein Kasperltheater. Ein fast mannshohes, liebevoll gestaltetes Kasperltheater mit einem leuchtend grünen Vorhang und einem Holzsockel, auf den bunte Figuren aufgeklebt waren. Hinter dem Vorhang standen zwei kleine Holzschemel für die Spieler und zwei große Umzugskartons mit Requisiten, den klassischen Handpuppen wie dem Kasperl mit der roten Zipfelmütze und der Klatsche, dem Wolf, dem Polizisten, der Prinzessin und dem König.
Das Theater nahm die Mitte des Raumes ein, es beherrschte ihn gewissermaßen. Auf der rechten Seite des Zimmers stand ein uralter Schallplattenspieler auf dem Fußboden, dessen Tonarm mitten auf dem Tonteller lag. Gerald musste den Impuls unterdrücken, ihn zurück auf die Schiene zu legen. Zu seinen intensivsten Kindheitserinnerungen gehörten die dringenden Ermahnungen seines Vaters, die Nadel des Tonarms niemals, unter gar keinen Umständen auf einer Platte oder, was einem Verbrechen gleichkäme, auf dem nackten Tonteller zurückzulassen. In der Wohnung seiner Eltern hatte früher ein geerbtes, rechteckiges Monstrum auf vier Beinen gestanden, eine Musiktruhe mit Radio und Schallplattenspieler. Der Tonarm setzte zwar automatisch auf, aber Gerald liebte einzelne Passagen aus Hörstücken oder Erzählungen so sehr, dass er die Nadel direkt auf die entsprechende Position gelegt hatte. Eines Tages war sein Vater dann über Nacht verschwunden und niemals wieder aufgetaucht, und Gerald hatte sich gerächt, indem er die Nadel auf dem bloßen Tonteller liegen ließ, bis sie nur noch ein unerträgliches Quaken durch die Lautsprecher gejagt hatte.
An der Wand hinter dem Plattenspieler lehnte ein Stapel Langspielplatten. Das Cover der ersten zeigte das verzerrte Gesicht des Schauspielers Klaus Kinski. »Kinski liest Villon«. Gerald blätterte den Stapel durch. Es waren ausschließlich Hörspielplatten, von Will Quadflieg, Gerd Westphal oder eben Klaus Kinski. Die großen Sprecher lasen große Dichtung von Goethe, Büchner, Thomas Mann, Tschechow und Hesse.
Batzko stand in der Mitte des Wohnzimmers und zuckte die Achseln. »Ich fasse es nicht. Was ist das hier? Eine Kreuzung aus Kita und Alkoholikerabsteige?«
Gerald versuchte, die Atmosphäre dieser Wohnung auf sich wirken zu lassen. Da hing kein einziges Bild, kein Poster an den Wänden. Nichts, was auch nur annähernd etwas Wärme oder Heimeligkeit vermittelt hätte. Selbst ein Wohncontainer auf einer Großbaustelle hatte mehr Persönlichkeit als diese Zimmer. Es war wie das Skelett einer Wohnung, eine Absteige, da hatte Batzko nicht Unrecht. Wenn da nicht dieses Kasperltheater und die Schallplattensammlung wären.
Gerald spürte, wie von innen eine Kälte in seine Glieder zog, als befände er sich in einer Tropfsteinhöhle. Ja, das hier glich einer Höhle, in der sich Menschen verkrochen. Aber warum und wovor?
Als sie wieder auf dem Bürgersteig standen, atmete Gerald tief ein, um den muffigen Geruch der Wohnung aus seinen Lungen zu treiben. Er war dankbar für jeden Sonnenstrahl, der die Tristesse dieser Absteige im Halbdunkel verscheuchte. Am Tegernseer Platz wandte sich Batzko plötzlich nach rechts, obwohl ihr Wagen geradeaus, in der Ichostraße stand.
»Wir machen einen kurzen Ausflug, ich will dir etwas zeigen«, sagte er. »Du bist ja ein Zugereister, der seine Kinder- und Jugendjahre fern der einzigen Stadt verbracht hat, in der es sich zu leben lohnt.«
Gerald, der am Niederrhein aufgewachsen war, verzichtete auf einen bissigen Kommentar. Sie überquerten die Tegernseer Landstraße und bogen an der ersten Querstraße nach links ab. Nach wenigen Schritten standen sie vor einem Einfamilienhaus, das nicht nur klein, sondern neben den Nachbarhäusern geradezu geduckt wirkte, als wollte es sich verstecken. Die gelbe Farbe war abgeblättert, das Holz der Fensterrahmen brüchig und rissig geworden, das ehemalige Weiß der Vorhänge einem unansehnlichen Grau gewichen. Instinktiv sah Gerald zur Haustür. Da war tatsächlich ein Namensschild, handgeschrieben. Direkt daneben eine Metallschnur, die mit einer angerosteten Türglocke verbunden war. Unter einem der Fenster war der Verputz vollkommen abgeblättert. Der
Weitere Kostenlose Bücher