Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
Tonfall, »dass sie von dem anderen Fenster aus, dort drüben, die fragliche Person gesehen haben?«
Die Frau wich einen Schritt zurück und schaute Batzko überrascht an. Einen Moment lang fürchtete Gerald, dass Aloysia Kirmeier sich nun in vage Ausflüchte retten würde, dass sie Arndt Baumann nie gesehen, sondern sich einfach nur als Zeugin gemeldet hatte, um ein kurzzeitiges Prickeln in ihr eintöniges Witwendasein zu bringen. Sie wäre nicht die Erste.
»Ja. Freilich«, sagte sie im Tonfall größter Selbstverständlichkeit. Sie wies auf das andere Fenster, das zum Tegernseer Platz hinausging und auf dessen Bord ebenfalls ein Kissen lag. Sie stellte sich davor und zeigte auf die St.-Martin-Straße, die von der Tegernseer Landstraße in östlicher Richtung abging. Man konnte von der Kirmeier-Wohnung aus die ersten Meter nach der Kreuzung einsehen.
»Wissen Sie was? In der Post genau gegenüber habe ich fünfundvierzig Jahre lang gearbeitet. Manche Kollegen winken mir noch heute zu, wenn sie zur Mittagspause rausgehen. Die wissen ja, wo ich sitze. Den Kuchen hole ich im Café Tela. Im Hertie, der früher der Karstadt war, habe ich eingekauft. Ich brauche München ums Verrecken nicht. Ich brauch nur mein Giesing.«
»Um zur fraglichen Person zurückzukommen …«, insistierte Batzko.
»Freilich. Nur Geduld.« Wieder wies der Zeigefinger ihres kleinen Händchens die Richtung. »Da. Das Wohnhaus links, neben der Metzgerei.«
»Kompliment, Frau Kirmeier«, sagte Batzko, spürbar ungeduldig, »wenn Sie aus dieser Entfernung eine Person so genau und zweifelsfrei erkennen, können Sie eine Sehschule für Adler aufmachen.«
Aloysia Kirmeier lachte auf und warf den Kopf leicht zurück. Ihre rechte Hand fuhr in die Seitentasche ihres Kittels und holte ein schmales Fernglas heraus. »Was meinen denn Sie? Ich bin doch keine Pfuscherin, ich nehme meine Aufgaben doch ernst.«
»Verstehe«, sagte Batzko. »Und Sie haben also beobachtet, wie der ermordete Rechtsanwalt mehrere Male das Haus in der St.-Martin-Straße betreten und wieder verlassen hat?«
»Sag ich doch die ganze Zeit«, antwortete Aloysia Kirmeier. Ihrem patzigen Tonfall war anzumerken, dass sie nun endlich ihren Trumpf ausspielen konnte. »Aber nur an den Wochenenden. Manchmal kam er am Freitag, oft mit einer Einkaufstüte in der Hand. Oder er hat Samstagvormittag eingekauft. Gegangen ist er am Sonntagabend.«
»War er immer allein?«, fragte Gerald.
»Also, das war so.« Frau Kirmeier legte eine künstliche Pause ein, um die Situation genüsslich auszukosten. Sie stand nun mit dem Rücken zum Fenster, die Beine hüftbreit auseinander. »Einmal müssen Sie wissen, dass ich ja nicht immer schauen kann. Ich muss kochen, einkaufen, die Wohnung sauber halten, meine schwerkranke Mutter im Altersheim …«
»Ja. Ja. Wir verstehen.«
»Na bitte.« Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Es kamen manchmal noch Leute in das Haus, die gehörten da irgendwie nicht hin. Keine Giesinger, keine Ausländer. Da war ein Ehepaar. Die Frau trug Kleider am Leib, da könnte ich von dem Geld, das die wert sind, bestimmt ein halbes Jahr leben. Mindestens. Und ein anderer Mann gehörte wohl auch zu denen. Der kam und ging aber immer alleine. Und oft hatten sie Einkaufstüten dabei.«
»Liebe Frau Kirmeier«, sagte Gerald und bemühte sich um einen unverfänglichen Tonfall, »Sie führen nicht zufällig Buch über Ihre Beobachtungen?«
»Gott bewahre!« Sie hob die Hände wie zum Schwur. »Ich bin doch keine Spannerin. Ich doch nicht.«
»Natürlich nicht. Seit wann haben Sie denn die Personen beobachtet, und an schätzungsweise wie vielen Wochenenden haben sie sich dort getroffen?«
Aloysia Kirmeier setzte sich auf den Stuhl, der vor ihrem Fenster stand, als könne sie sich dadurch besser erinnern. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte sie sich wieder den Kommissaren zu. »Zum ersten Mal habe ich die gesehen … das war vielleicht vor einem knappen Jahr. Ja, das müsste hinkommen. Und insgesamt? Wenn Sie mal rechnen wollen – so an jedem dritten, später auch an jedem zweiten Wochenende waren die da.«
»In unserer Pressemitteilung war zu lesen, dass der Ermordete in der Kleidung eines Stadtstreichers aufgefunden wurde.«
»Ich weiß schon. Aber der nicht. Das kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Manchmal geht da freilich jemand so aus dem Haus, weil er an seinem Auto rumschraubt oder weiß der Himmel was. Das schon. Aber ganz selten nur.«
»Aber Sie haben
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