Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
Verkehrsmittel. Sobald der Verkehr stockte, sah er aus dem geöffneten Seitenfenster und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.
»Gestern, du warst noch keine Minute aus dem Büro, da hat diese Frau angerufen, zu der wir jetzt fahren. Aloysia Kirmeier heißt sie. Sie hatte sich schon einmal direkt nach der Veröffentlichung auf unsere Anzeige gemeldet. Ich hätte sie sowieso als Nächstes angerufen, aber sie hatte wohl erwartet, dass innerhalb von zehn Minuten direkt ein halbes Dutzend Polizeibeamte und ihr zu Ehren auch die Kollegen Batic und Leitmayr bei ihr auf der Matte stehen.«
»Aha«, sagte Gerald. Er hatte ebenfalls, trotz des lärmenden Verkehrs, das Seitenfenster heruntergelassen. Es war kühler als am Vortag, und Gerald hatte erst spät einschlafen können, die kalte Luft um seine Stirn tat ihm gut.
»Du bist so redselig«, sagte Batzko, als sie den Ostfriedhof passiert hatten. »Hast du etwa eine kurze Nacht gehabt?«
»Immerhin hast du eine halbe Stunde mit der Frage gewartet. So viel Rücksichtnahme kenne ich von dir gar nicht«, antwortete Gerald schroff. Er hatte keine Lust, auf die Frage seines Kollegen einzugehen.
»Das muss es sein«, sagte Batzko und wies auf ein mehrstöckiges Haus am Tegernseer Platz, Ecke Ichostraße. »Die Anruferin wohnt im dritten Stock.«
»Da sind Sie ja endlich!« Aloysia Kirmeier, eine Frau von etwa siebzig Jahren, empfing sie bereits im Treppenhaus. Sie trug einen blassblauen Kittel, ihre nackten Füße steckten in rosafarbenen Plüsch-Pantoffeln. Die grauen Haare hatte sie hochgesteckt, was den Blick etwas unvorteilhaft auf ihren breiten, faltigen Hals lenkte. Sie war korpulent, von kleiner Statur und hatte ganz kurze, rundliche Finger. Gerald spürte sofort einen leichten Ammoniakgeruch in der Nase.
»Gehen Sie geradeaus durch ins Wohnzimmer. Da spielt die Musik«, sagte sie und schloss die Tür hinter den Kommissaren.
Das Wohnzimmer war überraschend klein und wirkte so beliebig und unpersönlich wie in einem Prospekt eines Einrichtungshauses. Außergewöhnlich war allerdings die Gestaltung eines Fensters, das zur Ichostraße hinausging. Auf der Fensterbank lag ein Kissen, bestickt mit dem Motiv der Liebfrauenkirche, daneben stand ein Weißbierglas. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Hocker und links davon ein runder Beistelltisch, auf dem ein gerahmtes Foto eines älteren Mannes, ein Aschenbecher, eine Schachtel Zigaretten, eine Flasche Weißbier und eine rote Plastikrose in einem schlichten Glas angeordnet waren.
»Manche können es nicht verstehen«, sagte Aloysia Kirmeier, die Geralds Blick bemerkt hatte. »Wie ein Altar sähe das aus, meinen sie. Und dass man das nicht dürfe. Da würde man sich versündigen am Leben, mit den Zigaretten und dem Bier. Ich sehe das nicht so. Das war sein Platz, und das wird er immer sein. Den halte ich frei für ihn. Das soll er wissen, falls er von oben zuschaut. Weiß man’s denn?«
»Ich finde es in Ordnung«, sagte Batzko ein wenig gelangweilt. Im Vergleich zu ihm wirkte die Frau wie eine Zwergin.
»Wissen’s«, meinte Frau Kirmeier, sichtlich erleichtert, dass sie auf Zustimmung traf, »der eigentliche Grund ist aber ein anderer. Fast fünfzig Jahre waren wir verheiratet, und wir haben nur gestritten. Über alles: Geld, Kinder, Urlaub, Auto. Immer, jeden einzelnen Tag, den der Herrgott uns geschenkt hat, haben wir vergiftet. Nur Zank und Zwietracht in diesen vier Wänden, von morgens bis abends. Alles furchtbar, bis zu unserer Pensionierung. Da war das Bittere weg, von einem Tag auf den anderen. Er hatte da seinen Platz, schaute auf die Feldmüllersiedlung. Er hat die ganze Renovierung miterlebt, die Abrisse, die Ein- und Auszüge. Hat dagesessen und sein Weißbier getrunken, seine Zigarette geraucht. Schön war’s mit uns, die sechs Jahre, wo wir beide in Pension waren. Jeder Tag aus Schokolade. Wissen Sie, was die Ehe ist?« Ihr Blick wanderte von einem Kommissar zum anderen, aber sie enthielten sich einer Antwort, weil zu offensichtlich war, dass Frau Kirmeier lediglich eine Kunstpause einlegen wollte.
»Ehe heißt: zu spät gelernt.« Sie machte eine erneute Pause, bevor sie fortfuhr. »Jahrzehnte nur Streit, und es wäre alles so einfach gewesen. Er hätte nur seinen Flecken gebraucht, und ich auch. Man darf nichts voneinander wollen und nichts verlangen, dann erst kriegt man etwas. Alles gelernt, nur zu spät.«
»Sehe ich das richtig«, sagte Batzko, nun in einem anderen, dienstlicheren
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