Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
werden. Die Tür habe ich, wie gesagt, arretiert. Gehen Sie rein und entscheiden Sie alles Weitere. Ich habe Batzko übrigens auf Band gesprochen, falls der doch noch auftaucht, wissen Sie warum. Falls er nicht mehr zu kommen braucht, müssen Sie ihm das auch auf die Mailbox flüstern. Okay? Ach so, es kamen auch noch ein paar Nachbarn vorbei, nette, höfliche Leute. Auch wie vor den Kopf gestoßen. Sie haben ihre Hilfe angeboten, aber die Tochter will alleine sein und niemanden sehen. Sie ist sehr beherrscht, vielleicht sogar zu beherrscht, was gefährlicher ist als das Gegenteil, wie wir alle wissen. Aber nun sind Sie auf dem Spielfeld und werden schon das Richtige tun. Ich mache mich vom Acker, endgültig.«
Schultheiss versetzte Gerald einen leichten Klaps gegen die rechte Schulter, kniff ein Auge zu und ging zügig zu seinem Dienstwagen auf der anderen Straßenseite.
Gerald stand alleine auf dem Bürgersteig. Ihn fröstelte es, obwohl es immer noch sehr warm war und sich kein Lüftchen regte. Er sah auf die Wohnungsanzeigen an der Front des Wintergartens. Dann fiel ihm ein, dass es ja gar keine realen Anzeigen waren, dass sie nur als Orientierungshilfe für die Kunden dienten, die zum ersten Mal das Maklerehepaar aufsuchten. Er spürte eine absurde Erleichterung, als würde das etwas von dem Schrecken nehmen.
Gerald ging die wenigen Stufen bis zum Eingang und nahm die zusammengerollte Zeitung vom Boden, die als Türsperre diente. Er betrat die Diele und warf zunächst einen Blick auf den imposanten Schreibtisch von Gerd Thaler, die Sitzgruppe im Wintergarten, in der er gemeinsam mit Batzko das Gespräch geführt hatte. Alles sehr geschmackvoll, sehr aufgeräumt, perfekt arrangiert wie zum Abfotografieren für eine Wohnzeitschrift. Das immer noch helle Tageslicht schmerzte beinahe in den Augen. Er durfte gar nicht daran denken, was sich eine Etage darüber ereignet hatte.
Gerald kehrte in die Diele zurück und betrat die gewundene Treppe aus dunklem Holz. Auf halbem Weg konnte man durch ein breites Doppelglasfenster in den Garten sehen. Geralds Schritte wurden langsamer und schwerer. Es lag nicht nur an dem Gespräch, das er gleich führen musste. Da war noch etwas anderes. Als ob sich alle Puzzleteile nacheinander an ihren richtigen Platz legten. Annes Wohnung in Schwabing, die sie bekommen hatte dank persönlicher Beziehungen … Gerald legte die linke Hand auf das Geländer und blieb stehen. Annes Bedrücktheit, wenn sie von der heftigen Ehekrise ihrer Eltern erzählt hatte. Der nächste Schritt fiel Gerald so schwer, als läge ein Zementsack auf seinen Schultern. Annes Versuch, ihr Leben ganz neu zu ordnen, nachdem sie aus einer Vernunftehe ausgebrochen und ihrem stumpfsinnigen Beruf entkommen war. Zu leben, anstatt das eigene Leben nur noch zu verwalten. Und die Fassungslosigkeit, mit der Gerd und Gertie Thaler der Neuorientierung ihrer Tochter gegenübergestanden hatten, sie am liebsten ganz verschwiegen hätten. Anne war noch nicht geschieden, trug also noch den Namen ihres Mannes. Gerald blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wie hatte ihm erst jetzt klar werden können, wie gut das alles zusammenpasste? Er hatte jedes Detail vor Augen gehabt, aber das komplette Bild nicht sehen können, er hatte alles gewusst, aber nichts erkannt.
Gerald betrat den Flur des ersten Stocks und horchte. Der schwere Teppich schluckte seine Schritte. Eine der weißen Türen mit vergoldeten Griffen war leicht geöffnet. Nun meinte Gerald ein Wimmern zu hören, ein sehr hoher Ton, der zugleich unendlich erschöpft klang, als hätte eine Person bis zur völligen Kraftlosigkeit geweint. Gerald holte tief Atem, er ging die drei, vier Schritte bis zur Tür und öffnete sie.
Es musste sich um Annes ehemaliges Kinderzimmer handeln. Sie lag auf dem Bett, mit dem Rücken zur Tür, ganz bekleidet, mit Jeans, einer hellblauen Bluse, sogar mit Schuhen. Ihr Körper war zusammengekrümmt wie bei einem Embryo, und sie wimmerte.
Gerald hatte nicht den Mut, an die Tür zu klopfen oder etwas zu sagen. Aber es war nicht nötig, denn Anne drehte sich langsam um, als spürte sie, dass jemand das Zimmer betreten hatte.
»Gerald? Du, Gerald?« Sie setzte sich, wischte mit beiden Händen über ihr Gesicht, schüttelte den Kopf und lächelte. Ja, sie lächelte, wirkte gleichzeitig unendlich kraftlos und wie erlöst.
»Wie hast du es erfahren? … Wer hat es dir gesagt? Diese Männer, die da waren … Sind sie überhaupt noch
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