Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
»Weißt du was? Ich habe zum ersten Mal wieder richtig Lust auf ein Glas Rotwein. Darauf müssen wir anstoßen.«
Gerald stand auf. »Gerne. Ich gehe in die Küche.«
»Ja. Nein, warte. Die Weine sind unten im Keller, in der Vorratskammer. Wenn du in den Keller kommst, ist es die zweite Tür rechts. Das Weinregal ist gleich links. Die französischen liegen oben, die italienischen unten. Such dir aus, was du magst. Ich hole uns Gläser. Mein Gott, ich glaube, ich werde mich heute betrinken.«
Gerald war erleichtert, so ausgelassen hatte er sie, auch vor dem Tod ihrer Eltern, nur selten erlebt. Er ging in den Keller, ein Bewegungsmelder schaltete automatisch das Licht ein. Er betrat den Gang und sah auf der linken und rechten Seite jeweils zwei verschlossene Türen. In einem der beiden hinteren Räume musste sich die Heizung befinden, dem wummernden Geräusch nach zu urteilen. Er öffnete die erste Tür rechts, sah aber im Halbdunkel des Flurlichts, dass er sich geirrt hatte. Richtig, der Weinkeller war eine Tür weiter. Das hier war eine Abstellkammer mit alten Büromöbeln und Kleiderschränken. Er hatte die Tür schon fast geschlossen, als sein Blick auf etwas fiel. Ganz links hinten an der Wand stand ein Kasperltheater.
Er wusste nicht, wie lange er regungslos davorgestanden hatte. Doch plötzlich hörte er Annes Stimme von oben: »Alles okay? Hast du den Wein gefunden?«
Wie in Trance nahm er eine der Figuren, den Polizisten mit dem Stock, und stieg die Treppe hinauf.
Anne stand mit den Weingläsern im Wohnzimmer.
Gerald blieb im Türrahmen stehen, die Figur des Polizisten immer noch in der Hand. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er bekam kein Wort heraus.
Anne sah ihn erschrocken an und ließ die Gläser fallen, die erstaunlicherweise nicht auf dem Teppich zersprangen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und atmete tief ein und aus. Unter ihrer dünnen Bluse konnte man jede einzelne Rippe erkennen.
»Das stammt aus der Wohnung in Giesing«, sagte er, aber seine Stimme war nur ein Krächzen. »Ich glaube nicht, dass deine Eltern es vor ihrem Suizid hierher geholt haben.«
Sie drehte sich um und ging zum Fenster. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, aber dichte Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, und es war mit einem Mal sehr dunkel geworden. Absurderweise dachte Gerald in diesem Moment daran, dass Nele und Severin nicht mehr auf dem Spielplatz sein würden. Er fand es in dieser Sekunde einfach zu schrecklich, an die Wahrheit zu denken.
»Du hast also von der Wohnung gewusst«, fragte er, und seine eigene Stimme klang entsetzlich weit entfernt.
Sie nickte.
»Schon immer?«
»Mehr oder weniger. Meine Mutter hatte es mir schon bald erzählt. Ich war ihre engste Vertraute.« Annes Stimme war klar und sicher.
»Stimmt es, dass sich zwischen deiner Mutter und Arndt Baumann etwas abgespielt hat?«
Sie nickte wieder, zögerte aber mit einer Antwort: »Mein Vater war der erste Mann im Leben meiner Mutter. Sie hat ihn wirklich geliebt, aber aus dieser anfänglichen Liebe ist bei meiner Mutter irgendwann lediglich Sympathie geworden und aus der Sympathie dann eine respektvolle Distanz. Arndt Baumann war nicht besser aussehend als mein Vater, nicht intelligenter, nicht vermögender, nicht charmanter. Aber die Liebe, sagte meine Mutter mir einmal, entzündet sich eben nicht an einer Liste von guten Eigenschaften. Sie entzündet sich an etwas, was wir selbst nicht verstehen und gegen das wir manchmal ankämpfen und dem wir doch erliegen.«
»Wollten die beiden ein neues Leben beginnen?«
Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht.
»Das war eben das Furchtbare. Baumann wollte nicht. Er wollte weiter die Wochenenden in diesem Giesinger Loch verbringen und sich betrinken, sich ab und an mit meiner Mutter treffen und alles so weiterlaufen lassen.«
»Dein Vater …«
»Er ist beinahe verrückt geworden. Es wäre unglaublich hart für ihn gewesen, wenn meine Mutter ihn verlassen hätte. Aber irgendwann wäre er auch darüber hinweggekommen. Baumanns Verhalten hat ihn verletzt und empört. Es war, als ob Baumann meinem Vater ins Gesicht gespuckt hätte, als ob er alle seine Werte und Prinzipien mit Füßen treten würde.«
»Hätte sich denn deine Mutter darauf eingelassen?«
Anne stöhnte auf.
»Sie hatte sich anfangs eingeredet, er würde doch die Kraft und den Willen aufbringen, mit ihr ein neues Leben zu beginnen. Sie wollte eben nicht sehen, dass Baumann kein Rückgrat hatte. Im Beruf war
Weitere Kostenlose Bücher