Der Totenleser
Fremdeinwirken nicht in Betracht kam, stellte er das Todesermittlungsverfahren ein.
Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie mikroskopische Untersuchungen in der Rechtsmedizin wesentlich dazu beitragen können, Todesursachen oder -umstände hinlänglich aufzuklären. Allerdings sind es nicht immer so komplizierte Fragestellungen, die uns veranlassen, das Mikroskop zu Hilfe zu nehmen. Bei der Spurensuche im Kleinen wollen wir oft nur herausfinden, wie alt eine Verletzung ist. Dabei richten wir unser Augenmerk auf sogenannte Entzündungszellen. Die sammeln sich zum Beispiel im Randbereich von Verletzungen an, als Reaktion auf die Traumatisierung des Gewebes. Ob die Verletzung durch scharfe Gewalt (zum Beispiel Stichverletzungen aller Art) oder stumpfe Gewalt (wie die Penetration der Vagina mit einem stumpfen Gegenstand) verursacht wurde, spielt dabei keine Rolle. Unter dem Mikroskop lassen sich Art und Intensität dieser Entzündungszellen beurteilen, aus der wir wiederum auf die Überlebenszeit nach einem körperlichen Angriff schließen können. Die entsprechenden Resultate helfen den zuständigen Ermittlern oft dabei, die Todeszeit näher einzugrenzen und Alibis präziser und zuverlässiger zu überprüfen.
Anhand von Entzündungszellen lässt sich auch erkennen, wie lange vor dem Tod eine Erkrankung schon bestand, so beispielsweise im Fall eines 61-jährigen Mannes, der eines Morgens beim Frühstück im Beisein seiner Frau zusammenbrach und starb. Der gerufene Notarzt notierte »Herzinfarkt« auf dem Totenschein. Die Obduktion bestätigte diese Todesursache zweifelsfrei, doch war der Mann noch aus einem anderen Grund bei uns in der Rechtsmedizin. Der für den Fall zuständige Staatsanwalt wollte wissen, ob den Hausarzt eine Schuld traf. Der Grund: Ziemlich genau vierundzwanzig Stunden vor seinem Tod war der 61-Jährige bei ihm gewesen, weil er über Atemnot und Brustschmerzen klagte. Der Hausarzt hatte den Patienten kurz mit dem Stethoskop abgehört und die Wirbelsäule abgeklopft und war dann zu dem Schluss gelangt, dass der Mann unter schmerzhaften Rückenverspannungen leide. Auf weitere Diagnostik hatte er verzichtet, dem Mann ein leichtes Schmerzmittel verschrieben und ihn nach Hause geschickt. In unserem Institut sollte nun geklärt werden, ob der Arzt den Infarkt schon hätte bemerken können.
Unter dem Mikroskop zeigte sich ein klares Bild: Die Ausprägung der Entzündungszellen im betroffenen Bereich bedeutete, dass der Herzinfarkt mindestens 72 Stunden alt war. Hätte der Hausarzt ein EKG und eine Blutuntersuchung durchgeführt – beides ist bei solchen Beschwerden medizinischer Standard –, wäre der Infarkt sofort aufgefallen. Dass sich der Arzt stattdessen mit einer Schnelldiagnose begnügte, kostete seinen Patienten am nächsten Tag das Leben.
MörderischerFrust
Stellen Sie sich einen 17-Jährigen auf einem Stromverteilerkasten vor: Er hockt schon seit Stunden auf dem Ding in der Nähe seiner Haustür. Er ist gleichzeitig deprimiert und wütend. Und seine Hand ist auch immer noch geschwollen und tut weh. Alles nur deshalb, weil sich seine Freundin auf einmal von ihm trennen will. Die halbe Nacht hat er sich um die Ohren geschlagen, weil der Freund seiner Mutter wollte, dass die beiden das »in Ruhe klären«. Natürlich hat das ganze Gerede dann mal wieder überhaupt nichts gebracht, obwohl sie beide erst um sechs Uhr ins Bett gekommen sind. Und dann musste er auch noch allein auf dem Ausziehsofa schlafen, weil die Kuh sich lieber bei seiner kleinen Schwester verkriechen wollte. Und heute Mittag, als sie endlich aufgestanden waren, taten seine Mutter und seine »Ex« plötzlich so, als wär nichts, und mussten unbedingt irgendwo zum Inline-Skaten. Kein Wunder, denen war er doch sowieso egal. Die haben ihn sogar gefragt, ob er mitwill. Dabei interessierte sich doch in Wahrheit niemand für ihn. Außer seiner kleinen Schwester, die meistens zu ihm hielt. Die anderen wollen doch alle immer nur, dass er die Klappe hält und sich am besten unsichtbar macht. Und ge fragt, was er will, hat ihn sowieso niemand. Irgendwann würden die das alles zurückkriegen, darauf konnten die sich verlassen! …
Vielleicht hat der Junge auf dem Stromverteilerkasten auch etwas ganz anderes gedacht. Fest steht nur, dass seine gleichaltrige Freundin am Tag zuvor mit ihm Schluss gemacht hatte. Nicht das erste Mal, aber diesmal nach ihrer Aussage endgültig. Außer Frage steht auch, dass der 17-Jährige an dem
Weitere Kostenlose Bücher