Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
Vom Netzwerk:
Frust saß.
    Diese Mutter, die sich selbst immer als Kämpfernatur gesehen hatte, verlor nach dem Mord an ihrer Tochter alle Freude und jeden Lebensmut. Sie sah sich nicht mehr in der Lage zu arbeiten und musste sich auf unbestimmte Zeit krankschreiben lassen. Um sich wieder zu stabilisieren, begab sie sich in psychotherapeutische Behandlung, ebenso ihr Lebensgefährte, der sie mit all dem nicht allein lassen wollte. Zudem stellte die Frau, der ich in diesem Kapitel das Pseudonym Nadine Angerer gege ben habe, zeitweilig eine eigene Website ins Netz. Dort schrieb sie auch einen Brief an ihr totes Kind, in dem sie dem Mädchen erzählte, wie sie den Abend der Tat und der anschließenden Suche erlebt hatte. Über den Moment, als die Nachbarskinder Sören und Felix ihr von dem gefundenen Fahrrad Michelles berichteten, schrieb sie: Ich brach zusammen und wusste meinen Schmerz zu deuten. Ich bin in Sekunden gestorben, und keiner konnte mehr helfen.
    Im Hamburger Institut für Rechtsmedizin, in dem ich damals noch tätig war, gibt es einen Trauerraum, in dem die Angehörigen von Verstorbenen Abschied nehmen können. Dies ist eine Besonderheit, da das Hamburger Institut zugleich öffentliche Leichenhalle für den Stadtstaat ist. Als ich hörte, dass die Mutter der kleinen Michelle einen Tag nach dem Fund und der Obduktion auf dem Weg ins Institut war, um ein letztes Mal ihre Tochter zu sehen, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Als diensthabender Arzt war ich derjenige, der sie in den Raum führen und auf das, was sie darin erwartete, vorbereiten musste. Obwohl ich nach so kurzer Zeit noch nicht wirklich Abstand zu der Obduktion gefunden hatte, oder gar zu dem, was dabei zutage gefördert worden war, lehnte ich das Angebot eines Kollegen ab, an meiner Stelle die Abschied nehmende Mutter zu begleiten. Inzwischen bin ich froh darüber, mich dieser Erfahrung gestellt und mit der Frau gesprochen zu haben. Auch wenn unser kurzes Gespräch nichts daran ändern konnte, dass sich das, was sie durchmachte und in nächster Zeit noch würde durchmachen müssen, nicht in Worte fassen lässt.
    Bei aller gebotenen Sachlichkeit und Objektivität und trotz der notwendigen Distanz zu Angehörigen von Mord opfern, zu der mich meine Arbeit verpflichtet, werde ich das Leid dieser Mutter niemals vergessen. Daher ist dieses Kapitel speziell ihr gewidmet – indem ich beim Schreiben sowohl ihren Wunsch berücksichtigt habe, wahrheitsgemäß über die letzten Stunden ihrer Tochter zu berichten, als auch ihre Angst vor schrecklichen Details, auf die ich in diesem Fall bewusst verzichtet habe. Ohne ihr ausdrückliches Einverständnis wäre dieser besonders tragische Fall weder in diesem noch in einem anderen Buch festgehalten worden.

ZumAbschluss : Was ich erreichen möcht e
    Zunächst einmal kann ich Sie beruhigen: Die Tatsache, dass Sie dieses Buch gelesen haben, spricht statistisch gesehen dagegen, dass Sie irgendwann als Verbrechens opfer auf meinem Obduktionstisch oder dem eines Kollegen landen werden. Warum? Weil Sie als lesender Mitbürger einer (zum Glück noch nicht völlig exklusiven) Bevölkerungsschicht angehören, in der sich Tötungsdelikte nur eher selten ereignen. Und dass Sie dieses Buch gekauft haben, bedeutet zudem, dass Sie nicht Ihr gesamtes Geld in Alkohol oder illegale Drogen investieren, was Sie wiederum noch weiter von dem Risiko entfernt, Opfer eines gezielten Gewaltverbrechens zu werden. Deren Opfer kommen fast regelmäßig aus desolaten sozialen Verhältnissen, sind meist ohne Schulabschluss und haben oft selbst eine kriminelle Vergangenheit. Die meisten Mordopfer – wie übrigens auch die Mörder – konsumieren täglich Alkohol in großen Mengen und sind auch zum Tatzeitpunkt in der Regel stark alkoholisiert. In vielen Fällen spielen illegale Drogen eine entscheidende Rolle, entweder als Motiv – ein Streit um Drogen oder deren Bezahlung – oder weil jemand unter Drogeneinfluss zum Mörder wird. Unter solchen Umständen werden Streitereien, häufig um Nichtigkeiten, fast immer mit brachialer körperlicher Gewalt ausgetragen. Dabei kommen Hämmer, Äxte und Knüppel zum Einsatz, doch die mit Abstand am häufigsten benutzten Tatwaffen sind Messer. Messer finden sich in jedem Haushalt, sie gibt es in jedem Warenhaus zu kaufen, und sie lassen sich leicht und unauffällig am Körper tragen. Im Gegensatz zu den USA herrschen bei uns rigide Waffengesetze, was die Verfügbarkeit von Schusswaffen anbelangt, und so spielen

Weitere Kostenlose Bücher