Der Totenleser
tödliche Schussverletzungen bei Tötungsdelikten in Deutschland zum Glück fast keine Rolle.
Leider kann sich trotz aller Statistik niemand sicher sein, dass enge Verwandte oder Freunde eines Tages keine Perspektive mehr im Leben sehen und den Entschluss fassen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden wie das Ehepaar Bergholz in dem Kapitel »Für immer vereint«. Auch kann niemand unsere Kinder vor Gewalttätern wie Nikolas Wiedemann im Kapitel »Mörderischer Frust« beschützen, der die siebenjährige Michelle aus einer finsteren Laune heraus vergewaltigte und dann ermordete. Niemand wird sich mit absoluter Sicherheit davor schützen können, dass ein anderer ihm heimlich Drogen in ein Getränk mischt, wie es Holger Wehnert in »Rätselhafte Verfolger« widerfuhr, der daraufhin erst seinen Verstand und dann sein Leben verlor. Und sind Sie sich sicher, dass nicht vielleicht doch ein naher Verwandter oder enger Bekannter praktizierender Autoerotiker ist, wie Christian Blank im Kapitel »Tödliche Lust«, den diese Leidenschaft sein Leben kostete? Wer soll ein ungeborenes Kind davor bewahren, dass seine Mutter es aufgrund einer Kurzschlusshandlung oder auch von langer Hand geplant umbringt, kaum dass es das Licht der Welt erblickt hat, wie im Kapitel »Grausiges Geheimnis« geschildert?
Das alles ist ebenso traurig wie schrecklich. Aber dass es immer wieder zu nicht natürlichen Todesfällen kommt, darf uns niemals resignieren lassen. Und erst recht dürfen wir nicht in unseren Bemühungen nachlassen, solche Fälle aufzudecken und aufzuklären.
Dafür ist eine gut funktionierende Rechtsmedizin auf höchstem wissenschaftlichem Niveau mit ausreichend spezialisierten Naturwissenschaftlern und gut ausgestatteten Laborbereichen, die über die neuesten Analysemethoden verfügen, unerlässlich. Nur so können natürliche Todesursachen auch in kniffligen Fällen als solche eingeordnet oder tödliche Vergiftungen nachgewiesen werden. Ohne DNA-Analyse bleiben zahlreiche Täter unerkannt. Oft lassen sich Verbrechen nur mit aufwendigen kriminaltechnischen Untersuchungen und ganz besonders durch eine professionelle rechtsmedizinische Rekonstruktion der Ereignisse vor, während und nach dem Tod des Opfers aufklären.
Doch die bittere Wahrheit ist: Die deutsche Rechtsmedizin wird zu Tode gespart. Die Süddeutsche Zeitung betitelte die deutsche Rechtsmedizin im Mai 2010 in einem Artikel zu diesem Thema als »Eine akademische Leiche«. Seit 1993 sind in Deutschland 11 von 32 rechtsmedizinischen Instituten aus Kostengründen geschlossen oder die Position des Institutsdirektors eingespart worden. Während in einigen anderen europäischen Ländern die Obduktionsrate bei bis zu dreißig Prozent der Todesfälle liegt, werden in Deutschland lediglich zwei bis drei Prozent aller Verstorbenen obduziert. Damit sind wir das traurige Schlusslicht in Europa. Was dabei he rauskommt, bringt der oft zitierte und abgewandelte Ausspruch eines Rechtsmediziners auf drastische, aber zutreffende Weise zum Ausdruck: »Wenn alle unerkannt Ermordeten am Jüngsten Tag ihre Zeigefinger aus dem Grab strecken, werden unsere Friedhöfe Spargelfeldern gleichen.«
Je weniger Leichen obduziert werden, umso weniger Tötungsdelikte werden als solche erkannt und umso mehr Täter leben unbehelligt unter uns. Die Obduktionsarchive rechtsmedizinischer Institute sind voll von Fällen, bei denen zunächst bei einem toten Säugling von einem plötzlichen Kindstod ausgegangen wurde, der sich dann aber bei der rechtsmedizinischen Untersuchung als tödliches Schütteltrauma und damit als ein Tötungsverbrechen herausstellte – was ohne Obduktion niemals festgestellt worden wäre.
Wäre, wie im Kapitel »Im Griff des Vulkaniers« berichtet, der erdrosselte Ino Jungmann nicht obduziert worden, hätte die Aussage von Aleksej Wladimirowitsch, er habe nie die Absicht gehabt, sein Opfer zu töten, nicht widerlegt werden können, und er hätte statt als verurteilter Mörder den Gerichtssaal womöglich sogar als freier Mann verlassen. Und wenn die Leiche der siebenjährigen Michelle Angerer im Kapitel »Mörderischer Frust« nicht obduziert und in akribischer Puzzlearbeit alle rechtsmedizinischen und kriminalistischen Details zusammengesetzt und richtig interpretiert worden wären, müsste ihre Mutter noch heute in Ungewissheit darüber leben, was ihrer kleinen Tochter tatsächlich widerfahren ist, denn niemand hätte die ständig neuen Versionen des Tatherganges, mit denen der
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