Der Totenleser
war ein psychiatrisches Gutachten, das annähernd 100 Seiten umfasste. In dem Gutachten, das sich auf Aktenmaterial, Exploration der Vorgeschichte sowie psychologische und körperliche Untersuchung stützt, ging der psychiatrische Gutachter auch ausführlich auf die Kindheit des Angeklagten sowie auf dessen Situation und Gefühlszustand unmittelbar vor der Tat ein.
Im Kern bescheinigte er dem Angeklagten eine »emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus im Anfangsstadium«. Begonnen habe seine Entwicklungsstörung bereits im Vorschulalter, wo der Junge durch mangelnde Aufmerksamkeit und Hyperaktivität aufgefallen sei. Er sei schon früh emotional instabil und nicht in der Lage gewesen, seine gefühlsmäßigen Impulse zu kontrollieren. Damit seien die gewalttätigen Ausbrüche zu erklären, die sowohl seine Eltern und Geschwister als auch Mitschüler und Lehrer in der Folgezeit immer wieder miterleben mussten, vor allem dann, wenn Nikolas kritisiert wurde. Zudem leide der angeklagte Jugendliche an einem gespaltenen Selbstbild, wegen dem sich bei ihm Selbstüberschätzung mit massiven Selbstzweifeln abwechselten.
Als Nikolas Wiedemann am Nachmittag vor der Tat auf dem Stromverteilerkasten saß, war er nach Auffassung des psychiatrischen Gutachters voller angestauter Aggressionen. Ausgelöst worden seien diese durch den Streit am Vortag mit seiner Freundin Melanie. Da die nächtliche Aussprache nichts gebracht habe, sei der Frust des Angeklagten enorm gewesen, zumal Melanie nach dem Gespräch nicht bei ihm auf dem Ausziehsofa geschlafen habe, wie sonst immer, sondern sich in das Zimmer seiner kleinen Schwester Laura zurückgezogen hatte. Die angestauten Aggressionen nach dem Ende seiner ersten sexuellen Beziehung entluden sich dann »in einem spontanen Impulsdurchbruch durch einen aggressiven Akt gegenüber der kleinen Michelle«.
Die Tat sei demnach nicht aufgrund eines Motivs, sondern in Folge eines Affekts begangen worden. Dieser Affekt habe den Jungen zunächst überrollt, weshalb er kaum verstandesmäßig reagieren konnte. Allerdings, so das Gutachten, hätte der Angeklagte im Verlauf der Tat noch mehrere Gelegenheiten gehabt, sich anders zu verhalten. Vor allem sein Nachtatverhalten zeige, dass er nicht ausschließlich unter dem Einfluss des aggressiven Impulses gehandelt habe. Deshalb, so fasste der psychiatrische Gutachter zusammen, könne man nicht von einer aufgehobenen, sondern nur von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgehen.
Die Kammer schloss sich den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen an und nahm die verminderte Schuldfähigkeit in ihre Überlegungen zur Strafbemessung auf. Gleichzeitig jedoch wertete sie die Tat als »so schwerwiegend und so grauenvoll, dass sowohl aus erzieherischen Gründen als auch unter Sühnegesichtspunkten nur die Ahndung mit einer erheblichen Jugendstrafe« in Frage kam. Er habe die Arglosigkeit des Mädchens, das dem großen Bruder ihrer Freundin immer ohne jede Scheu begegnet war, »skrupellos miss braucht«, und die Ausführung seiner Tat zeuge von einer »unbarmherzigen und mitleidlosen Gesinnung« gegenüber dem erst sieben Jahre alten Mädchen. Als ebenfalls schulderschwerend wertete das Gericht die Teilnahme des Täters an der Suchaktion, während der er gezielt Polizisten und sogar die Mutter des Opfers mit Fehlinformationen versorgt hatte.
Das Gericht verurteilte den Angeklagten Nikolas Wiedemann wegen Vergewaltigung mit anschließendem Mord zu einer Jugendstrafe von acht Jahren.
Hätten die Richter nicht auf verminderte Schuldfähig keit entschieden, wären zehn Jahre die zugelassene Höchststrafe in dem hier angewendeten Jugendstrafrecht gewesen.
Stellen Sie sich eine Mutter vor, die nach dem grausamen Verbrechen an ihrer siebenjährigen Tochter zumindest wissen will, wie die letzten Stunden des Mädchens verlaufen sind, und deshalb all ihren Mut und ihre Kraft zusammennimmt und die Hauptverhandlung vor Gericht besucht. Stellen Sie sich vor, wie diese Mutter miterleben muss, dass der Mörder ihrer kleinen Tochter auch vor Gericht erneut lügt und seine Behauptungen nach und nach in allen Einzelheiten von Zeugen und Experten widerlegt werden müssen. Und stellen Sie sich vor, wie sie auf diese Weise herausfindet, dass ihr Kind aus einem mörderischen Impuls heraus vergewaltigt und ermordet wurde, nur weil es zufällig zum falschen Zeitpunkt an dem Stromverteilerkasten vorbeikam, auf dem der Täter in seinem angestauten
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