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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Suppe heiß, der Reis lauwarm, die Sauce und die Getränke sind kalt, außer dem Wein und dem Tee. Wusstet ihr, dass es ratsam ist, im Herbst eher süße Speisen zu sich zu nehmen, im Winter salzige, im Frühling saure und im Sommer bittere?«
    »Ich weiß nur, dass meine Frau mir das ganze Jahr über alles versauert«, antwortete einer, sehr zur Erheiterung der übrigen Tischgenossen.
    Ein anderer sprach nun über die fünf Liköre.
    »Die mit den eingelegten Tieren darin. Ich hoffe, wir bekommen heute Abend einige davon zu kosten.« Diesem Wunsch schlossen sich alle an.
    Kaum hatte er es ausgesprochen, erschien ein Diener an ihrem Tisch. Auf seinem Tablett trug er fünf Flaschen, gefüllt mit Schnaps aus Kaffernkorn, in denen je ein Tier schwamm. Ci erkannte einen Skorpion, eine Eidechse, einen Tausendfüßler, eine Schlange und eine Kröte. Er war der Einzige, der nicht davon kostete.
    Sie wollten gerade anstoßen, als Kan sich an Ci wandte.
    »Da kommt der Botschafter der Jin.« Er spuckte noch einmal aus.
    Ci wandte sich um, keiner der Anwesenden erhob sich. Hinter dem Botschafter gingen vier seiner Beamten. Von seiner graubraunen Gesichtsfarbe hoben sich deutlich seine ungewöhnlich weißen Zähne ab. Für Ci sah er aus wie einSchakal. Der Mann trat bis auf fünf Schritte an den Kaiserlichen Tisch heran und kniete nieder. Dann winkte er seinen Männern, die sich ebenfalls verbeugten, und gab ihnen ein Zeichen, damit sie seiner Kaiserlichen Hoheit die mitgebrachten Geschenke überreichten.
    »Verdammte Heuchler«, brummte Kan. »Erst berauben sie uns, und jetzt bringen sie Geschenke.«
    Ci beobachtete, wie der Botschafter und seine Männer an einem Tisch nahe dem Podium des Kaisers Platz nahmen, auf dem das Lieblingsgericht der Barbaren bereitstand: ein riesiges gebratenes Lamm, an dem sie sich sogleich gierig zu schaffen machten.
    Kan schien der Appetit vergangen zu sein. Vorsichtshalber beschloss Ci, ebenfalls nichts mehr zu essen, während die übrigen Gäste sich an den Nachspeisen gütlich taten. Der Likör wurde von Hand zu Hand gereicht und lief über die in Sirup eingelegten Scheiben der Lotoswurzel und der Melonen.
    Unterdessen informierte der Einäugige Ci, dass er ihm, sobald das Feuerwerk begänne, die Person zeigen würde, die er verdächtigte.
    Cis Herz fing an wie wild zu klopfen.
    Kurz darauf erklang ein dritter Gong, mit dem der Kaiser das Bankett für beendet erklärte. Tee und Likör würden nun im Garten serviert.
    Die Anwesenden erhoben sich und strömten ins Freie.
    »Gehen wir und schauen uns das Spektakel an«, sagte Kan.
    * * *
    Auch im Garten blieben die Familien getrennt: die Männer beim Likör, lachend und trinkend auf dem Hauptbalkon, während die Frauen begannen, auf den Tischchen am Seeden zeremoniellen Tee vorzubereiten. Der Mond spiegelte sich in der Wasseroberfläche neben den Schwänen, und die Nacht zwischen den Japanischen Pinien wurde von kleinen Lampions erleuchtet. Ci zitterten die Hände, nervös sah er immer wieder zu Kan hinüber, doch der Einäugige schien an niemand anderem interessiert zu sein als an dem Bronzefabrikanten. Nach einer Weile rief der alte Strafrat ihn zu sich.
    »Komm mit, gehen wir Tee trinken.«
    Ci folgte ihm durch die Dunkelheit an das Ufer des Sees. Dort beleuchtete ein Schmetterlingskäfig voller Glühwürmchen eine Gruppe, die um einen Teekessel herum saß. Ci erkannte Männer und Frauen, es mussten Alte und Kurtisanen sein, denn sonst würden sie keine Tischdecke teilen. Ohne darauf zu warten, dass man ihn dazu einlud, kniete Kan sich neben sie.
    »Ihr habt doch nichts dagegen, dass wir uns zu euch gesellen …«
    Das Lächeln einer Frau im reifen Alter hieß sie willkommen.
    »Fühl dich wie zu Hause«, flüsterte sie. »Wen hast du da bei dir?«
    Ci wurde verlegen angesichts der ebenmäßigen Schönheit der Frau. Sie mochte um die vierzig sein, wirkte jedoch jünger. Und offenbar kannten sie und Kan sich.
    »Das ist Ci. Ein neuer Assistent.«
    Ci nickte stumm und ließ sich neben den Einäugigen sinken. Vier Männer und sechs Frauen, registrierte Ci. Die Männer waren zwar alt, doch ihre guten Manieren schienen das zu kompensieren. Bis auf die Schöne, die sie begrüßt hatte, waren alle Frauen sehr jung. Dennoch besaß keine von ihnen die Vollkommenheit der Züge der Ältesten. Cibeobachtete die Männer verstohlen – einer von ihnen sollte also der Mörder sein?
    Mit außerordentlicher Eleganz schenkte die Schöne ihnen Tee ein. Ci nippte

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