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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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stehen kurz davor, einen neuen Vertrag mit den Jin zu unterzeichnen. Einen Waffenstillstand, der die prekäre Sicherheit unserer Grenze mit noch mehr Zöllen erkaufen wird.« Er machte Anstalten, nach einem zweiten Ordner zu greifen, doch er hielt sich zurück. »Und darin liegt das Motiv des Verräters.«
    »Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht …«
    »Schon gut!«, unterbrach ihn Kan. »Heute Nachmittag gibt es einen Empfang im Palast, zu dem der Botschafter der Jin kommen wird. Sei vorbereitet. Dir wird angemessene Kleidung und eine geeignete Identität gestellt. Dort wirst du deinen Gegner kennenlernen, die Schlange aus dem SchoßeYue Feis. Die Person, die du enttarnen musst, bevor sie dich demaskiert.«
    * * *
    Während sie auf das Eintreffen des Botschafters warteten, zog sich Ci die grüne Seidenuniform über, die der Kaiserliche Schneider für ihn gefertigt hatte und die ihn, so war ihm versichert worden, als persönlichen Berater Kans auswies. Ci rückte sich die Kappe zurecht und zog eine Augenbraue hoch. Sein Aussehen erinnerte ihn an einen falschen Opernsänger, der versucht, sich bei einem Bankett einzuschleichen, um kostenlos zu Mittag zu essen. Doch der Schneider schien sich von seiner Unsicherheit nicht beeindrucken zu lassen. Er steckte die Säume mit Stecknadeln fest und versicherte ihm, dass er aussehe wie ein Prinz. Ci ließ den Mann machen, während er über das Gespräch mit Kan sinnierte, das ein gewisses Unbehagen bei ihm hinterlassen hatte. Wieso hatte der Einäugige ihn mit einem Mal so bereitwillig ins Vertrauen gezogen? Und wieso wollte er ihm den Mörder vorstellen, anstatt ihn festzunehmen, wenn er ihn schon kannte?
    Die Zeremonie begann am fortgeschrittenen Nachmittag, kurz bevor die Sonne anfing, sich hinter dem Palast der ewigen Frische zu verstecken. Ein Diener hatte Ci zu den PrivatgemächernKans geleitet, der ihn bereits im Festgewand an der Tür erwartete. Der Einäugige musterte Cis Aufmachung zufrieden, und zusammen machten sie sich auf den Weg in den Empfangssalon, in dem die Feier stattfand. Auf dem Weg wies Kan ihn in den komplizierten Ablauf der Zeremonie ein und sagte, dass er seine Anwesenheit rechtfertigen würde, indem er ihn als Jin-Experten ausgab.
    »Aber ich weiß überhaupt nichts über diese Barbaren …«
    »An dem Tisch, an dem wir sitzen werden, musst du nicht über sie sprechen«, sagte Kan knapp.
    Als sie den Empfangssaal betraten, wurde Ci blass.
    In einem riesigen, lichtdurchfluteten Raum, in dem ein ganzes Regiment Platz gefunden hätte, standen Tische, die von Unmengen verschiedener Speisen in allen erdenklichen Farben und Formen überquollen. Die Gerüche von Soja, Garnelen und süßsaurem Fisch mischten sich mit dem Duft der Chrysanthemen und Pfingstrosen. Zahlreiche Windräder, die an den Fenstern installiert waren, erfrischten die Luft. Dahinter lag ein märchenhafter Garten, in dem die Schönheit der elfenbeinblassen Japanischen Pinie mit den hochgewachsenen Bambuspflanzen, den Jasminbüschen, den Orchideen und Zimtblüten konkurrierte, würdevoll trieben weiße und karminrote Seerosen im Gischtschleier eines künstlichen Wasserfalls auf einem kleinen See.
    Ci kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er begriff plötzlich, dass bis zu diesem Augenblick seine Vorstellung von Reichtum so ärmlich gewesen war wie die eines Einsiedlers, der angesichts einer neuen Schlafmatte vollkommen aus dem Häuschen gerät. Nicht einmal das phantasiereichste sterbliche Wesen wäre in der Lage, sich diesen Luxus vorzustellen, der ihn hier umgab.
    Er betrachtete die Heerschar von Bediensteten, die reglosund in einer perfekten Linie dastanden wie Statuen und auf das Zeichen für ihren Einsatz warteten. Auf einem mit gelbem Samt verkleideten Podium erkannte er den Tisch des Kaisers. Er zählte zehn gebratene Fasane darauf und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl war, dort oben fürstlich zu speisen und dabei auf Hunderte von herausgeputzten Untertanen herabzublicken.
    Kan machte Ci ein Zeichen, ihm durch die Menge der Aristokraten und Ehrenmänner zu folgen, der Dichter und Kalligraphieexperten, Präfekten und Subpräfekten, hohen Verwaltungsbeamten und Mitglieder der verschiedenen Räte, die in Begleitung ihrer Familien aus allen Winkeln des Reiches angereist waren. Er erzählte Ci, dass der Kaiser es vorgezogen hatte, dem Ganzen einen festlichen Anstrich zu geben, damit es nicht aussah wie eine Kapitulation.
    »Zu diesem Zweck hat man die Audienz auf den Tag des

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