Der Totenleser
bestimmtenSorte von Frau.« Sie lächelte. »Und sie provozieren Antworten, die man nur einer bestimmten Art von Mann gibt.«
»Trotzdem«, insistierte Ci.
Als einzige Antwort leerte Blaue Iris ihr Likörglas.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
Ci wollte sie aufhalten, doch ein plötzlicher Knall lenkte ihn ab. Er hob den Kopf. Über ihnen funkelten Lichtgirlanden, grüne und rote Lichtkegel beleuchteten abwechselnd ihre Gesichter.
»Das Feuerwerk!« Ci bewunderte die blumigen Ornamente, die dort am Himmel funkelten. »Das ist wunderschön.« Er suchte die Zustimmung von Blaue Iris, doch er fand ihren Blick abwesend. »Schaut doch nur!«
Doch anstatt den Blick zum Himmel zu heben, drehte die Frau ihren Kopf zu ihm. Im Schein der Lichter glänzten ihre Augen feucht.
»Ich würde, wenn ich könnte«, antwortete sie.
Sie stand auf, nahm einen Stock und entfernte sich.
Ci schüttelte ungläubig den Kopf. Blaue Iris, die Enkelin Yue Feis, die Kan des Mordes verdächtigte, war vollkommen blind.
* * *
Als er in den Palast zurückkam, staunte die Menge immer noch über das pyrotechnische Spektakel, das kein Ende nehmen wollte. Er suchte Kan, doch er fand ihn weder auf dem Balkon noch im Empfangssaal oder auf den Außentreppen. Er ging wieder hinunter in die Gärten, doch auch da war er nicht.
Es war vermutlich nach Mitternacht, als er Kan ein wenig abseits in einer dunklen Ecke des Gartens ausmachte. Ci gingihm entgegen, doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Der dicke Einäugige war nicht allein – bei ihm saß der Botschafter der Jin. Irritiert fragte sich Ci, worüber die beiden so ausgiebig zu sprechen hatten, versteckt im hintersten Winkel des Gartens.Vielleicht aber hatte der Likör seine Sinne vernebelt und ließ ihn nicht mehr klar denken. Er sagte sich, dass es so oder so besser wäre, kehrtzumachen und sich in seine Kammer zurückzuziehen.
Das Bett erschien ihm hart wie Stein. Er schlief in Etappen, zwischen einem Magenkrampf und dem nächsten, bis ein Kaiserlicher Beamter ihn unsanft weckte. Er habe die Anweisung, ihn in die Leichenkammer zu begleiten.
Ci rieb sich die Augen. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick platzen.
»Sind die Leichen denn noch nicht eingeäschert?«, fragte er erstaunt. Er verbarg das Gesicht in den Händen. Das Tageslicht schmerzte ihn.
»Es ist eine neue Leiche aufgetaucht, heute Morgen.«
Auf dem Weg in die Leichenkammer informierte ihn der Beamte, dass sie den Toten in der Nähe des Palastes gefunden hätten, jenseits der Mauern. Kan untersuche ihn in diesem Augenblick mit einem seiner Inspektoren.
Als Ci die Leichenkammer betrat, war Kan über den Toten gebeugt. Der Unglückliche lag bäuchlings auf dem Tisch, nackt, und wie bei dem Eunuchen fehlte ihm der Kopf.
»Ebenfalls geköpft«, bemerkte Kan, ohne sich umzudrehen.
Ci band sich hastig eine Schürze um und überflog den Bericht des Inspektors. Wie üblich hatte der sich darauf beschränkt, oberflächliche Details wie die Anzahl der Wunden und die Hautfarbe aufzulisten. Eine Schätzung des Alters hatte er nicht gewagt.
Ci bat um Erlaubnis, den Leichnam selbst zu untersuchen.
Zuerst fiel ihm auf, dass der Mörder den Schnitt am Hals, mit dem der Kopf abgetrennt worden war, unsauber ausgeführt hatte – anders als bei dem Eunuchen. Darum vermutete er, dass er nicht genug Zeit gehabt hatte, um sein Vorhaben in Ruhe zu Ende zu bringen. Die Wunde in der Brust war weniger tief als bei den anderen Leichen. Im Nacken des Toten fanden sich Kratzer, die bis zu den Schultern hinunterliefen, und auch auf den Handrücken waren Abschürfungen zu erkennen. Ci notierte seine Beobachtungen und teilte sie Kan mit.
»Die Kratzer müssen entstanden sein, als man den Leichnam vor die Tore des Palastes geschafft hat. Er wurde an den Füßen festgehalten und über den Boden geschleift, daher die Abschürfungen an Hals, Schultern und Händen.« Ci zeigte darauf. »Doch offenbar ist er zu diesem Zeitpunkt noch angezogen gewesen, sonst würden sich die Abschürfungen hinunterziehen bis zum Gesäß.«
Mit einer Pinzette entfernte er Reste von Erde, die unter den Nägeln und auf der Haut klebten. Er sammelte sie in einem kleinen Fläschchen, das er mit einem Stück Stoff verschloss. Dann versuchte er, Arme und Beine der Leiche zu beugen, dabei stellte er fest, dass die Leichenstarre noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Er schätzte, dass der Tod vor weniger als sechs Stunden eingetreten
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