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Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Titel: Der Totenwächter - Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Farmer
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auf. Die Griffe befanden sich innen.
    Es platschte, als das Wesen seine Handflächen an die Scheibe schlug. Graue Haut wellte sich vor dem Glas. Hagere Finger krallten sich zusammen. Schwarze Fingernägel machten tick, tick am Glas. Sie kratzten über die glatte Oberfläche und machten ein kreischendes Geräusch, als zöge jemand Kreide über eine Schiefertafel. Linda bekam eine Gänsehaut.
    Sie schloss impulsiv ihre Augen. Sie wollte sich fühlen wie ein kleines Kind. Siehst du mich nicht, sehe ich dich auch nicht! Selbstverständlich war diese Annahme dumm. Als es hart an die Scheibe krachte, öffnete sie ihre Augen. Die Maske machte eine nickende Bewegung. Es war unzweifelhaft. Das Wesen begehrte Einlass und nutzte nun die Härte der Maske um die Scheibe zu zerschlagen.
    Woran, um Himmels willen, hielt sich das Wesen fest? Linda hatte schon einige Male den Kopf aus dem Fenster gestreckt und wusste, dass sich am Schiffsrumpf auf dieser Seite nur ein fingerbreiter Vorsprung befand, viel zu schmal, um Füßen Halt zu bieten. Schwebte ES?
    Linda wirbelte herum, riss die Kabinentür auf und war draußen im Gang. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Schwer atmend lehnte sie dagegen. Ein fröhlich pfeifender Tourist schlenderte an ihr vorbei, über die Schulter ein Handtuch, in der Hand eine prall gefüllte Badetasche. Im Vorbeigehen streifte sie sein Blick. Er stutzte und blieb stehen.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Es war ein älterer Herr mit schütterem Haar. Sein Bauch hing über einer viel zu kleinen Badehose.
    Linda verneinte.
    Er nickte zur Tür. »Haben Sie den Schlüssel drinnen vergessen?«
    Linda schüttelte den Kopf.
    Noch immer lief ihr der Schweiß in Strömen über den Körper und über das Gesicht. »Es geht schon«, stammelte sie. »Die Hitze - es war ein bisschen viel für mich.«
    »Sind Sie nicht die Dame, die fast verschüttet wurde?«
    »Die bin ich.«
    »Eine schreckliche Sache.«
    »Es geht schon«, wiederholte Linda und hoffte, der Mann würde seinen Weg fortsetzen.
    Als habe der ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Eine schöne Reise weiterhin.« Er formulierte eine saloppe Geste und machte sich auf Richtung Pool. Bevor er in die Rezeption trat, blickte er sich noch einmal um. Linda winkte ihm hinterher und rang sich ein Lächeln ab.
    Offensichtlich wusste das ganze Schiff Bescheid über ihr Erlebnis. Es schien sich wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ganz langsam pochte ihr Herz wieder im gewohnten Rhythmus.
    Und was sollte nun geschehen? Sollte sie zurück in die Kabine gehen? Was, wenn die Maske, dieses Wesen, inzwischen die Fensterscheibe zerschlagen hatte? Unsinn! Man hätte es hier draußen gehört. Es gab keine andere Lösung. Sie musste zurück in ihre Kabine, wollte sie nicht auf der Stelle völlig durchdrehen. Sie musste sich vergewissern, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, nur ein böser Traum gewesen sein konnte.
    Sie drehte sich um. Sie war alleine im Gang. Sanfte Musik säuselte aus versteckten Lautsprechern. Es roch nach Holz, Wasser und milden Reinigungsmitteln. Alles wirkte völlig harmlos, als sei sie in einem New Yorker Hotel.
    Linda legte ihr Ohr an die Tür. Wartete jemand auf der anderen Seite der Tür auf sie? Bereit, sie zu greifen, um sie in das Land unheimlicher Mysterien zu ziehen?
    Ihre Finger legten sich um den Knopf der Tür. Sie nestelte in ihrer Gesäßtasche nach der Türkarte. Vorsichtig schob sie den codierten Türöffner in den dafür vorgesehenen Schlitz. Ein winziges Lämpchen leuchtete auf und ein feines Klicken gab den Mechanismus frei. Nun nur noch den Knopf drehen. Das tat sie sehr, sehr langsam. Mit einem unmerklichen wupp! sprang die Tür auf. In der Kabine war alles still.
    Ein einziger fetter Schweißtropfen rann ihr juckend über die Wirbelsäule.
    Sie zog ihr Ohr vom Holz zurück und spähte durch den Türschlitz. Hoffentlich beobachtete sie niemand bei dieser Aktion. Man würde sie entweder für eine Einbrecherin oder für völlig durchgedreht halten. Gott sei Dank waren alle Touristen am Pool oder in ihren Kabinen.
    Doch - da atmete jemand. Hatte sie nicht ein metallisches pling! gehört, als schnippe jemand mit einem Fingernagel an eine Blechdose?
    Es gab keinen Zweifel. Die Maske war da drinnen. Sie wartete.
    Linda wägte ihre Chancen ab. Eine oder zwei unsagbar lange Sekunden. Es galt, eine Entscheidung zu treffen. Wenn sie die Kabine jetzt nicht betrat, würde sie es niemals wieder tun.

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