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Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Titel: Der Totenwächter - Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Farmer
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Jetzt nicht, morgen nicht, nie mehr!
    Sie tippte gegen die Tür, die langsam aufschwang. Linda konnte einen Teil der Kabine überblicken. Das Bett. Der kleine Tisch. Davor ein einfacher Stuhl, über dessen Lehne das luftige Sommerkleid von Grace hing. Die Tür zum Badezimmer war nur angelehnt. Drinnen war es dunkel. Ein Teil des Spiegels reflektierte das helle Licht der Kabine.
    War da nicht ein Schatten über das Glas gehuscht? Versteckte die Maske sich im Badezimmer? Ja, das war der Trick. Linda sollte die Kabine betreten und sich sicher wähnen. Dann würde sich die Badezimmertür öffnen und sie wäre ihm
    (wem?)
    ausgeliefert!
    Mühsam versuchte Linda, einen Blick auf das Fenster zu werfen. Vergeblich. Es befand sich in einem ungünstigen Winkel zur Tür. Sie hätte zumindest ihren Kopf weiter in die Kabine hinein schieben müssen. Lagen irgendwo Glassplitter? Nein - selbstverständlich nicht. Man hätte das Klirren einer zerberstenden Fensterscheibe gehört. Das war genauso unmöglich, wie sich eine Gestalt auf einem fingerbreiten Vorsprung am Rumpf eines Schiffes halten konnte. Es war unmöglich und doch geschehen.
    Lindas ahnte, dass ihre Sinne an einem Punkt angelangt waren, den sie nicht überschreiten durfte. Sie würde aufhören, an ihre Realität zu glauben und zusammenbrechen. Was sie heute erlebt hatte, war zu viel für sie - vermutlich zu viel für jeden Menschen, der sich im wirklichen Leben bewegte.
    Helden in Büchern oder Filmen konnten mit solchen Dingen spielerisch fertig werden. In Wirklichkeit jedoch weigerte sich die Psyche, dem Unglaublichen eine Nische in der Welt der Rationalität einzuräumen.
    Sie atmete tief ein und aus.
    Die Tür schwang so hart auf, dass der Knopf an den Kleiderschrank krachte.
    Mit aufgerissenen Augen starrte Linda in die Kabine. Eissplitter rieselten über ihre Haut, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte.
     
     

6
     
     
    Grace schwebte.
    Brad hielt sie einen halben Meter über der Wasseroberfläche. Er ließ das Mädchen los und mit einem herzerfrischenden Platschen tauchte Grace unter.
    »Ich kriege dich!«, quiekte sie und hastete hinter Brad her, der ihr eine lange Nase machte und mit einem Hechtsprung flüchtet. Er tauchte unter, machte einige Schwimmzüge und tauchte schnaubend wieder auf. Grace hastete hinter ihm her und tatsächlich bekam sie ihn zu fassen. Sie stemmte beide Handflächen auf seinen Kopf und tunkte Brad zurück in das Wasser. Schniefend und schnaufend machte er sich frei und richtete sich auf ein Monster.
    »Ha - ich werrrrde dich frrrressen«, gurgelte er und lachte.
    Grace liebte dieses Spiel. Sie erinnerte sich, dies auch mit ihrem Daddy gespielt zu haben. Mit Brad machte es fast genauso viel Spaß. Er konnte so - komisch sein. Richtig lustig. Da konnte man Stan, der aussah wie ein Filmvampir, fast vergessen. Aber auch nur fast. Schließlich war Brad schon uralt!
    »He, kleine Lady.« Brad tauchte unter, und als er auftauchte, schniefte er tausend Wassertropfen aus seinem Gesicht. »Wie wär’s, wenn wir mal ein bisschen Pause machen? Sonst kann ich morgen meine Knochen einzeln zählen.«
    »Okay.« Grace stemmte ihre Hände auf den Rand des Pools und schwang sich hoch. Ihre Beine baumelten im Wasser. Sehr genau beobachtet sie Brad. Er erklomm die drei Stufen und wischte sich die dunklen Haare zurück.
    Wenn ich Mom wäre ..., verlor Grace sich in Vermutungen. Ich würde keine Sekunde zögern!
    Mom!
    Sie hatte sich hingelegt und ruhte sich aus. Das war gut so. Immerhin hatte sie Schlimmes erlebt. Ein paar Stunden Ruhe würden ihr gut tun. Morgen würde sie nicht Brad döppen, sondern Mom. Ganz sicher. Und wie immer würde Mom fluchen und schimpfen und sich die Nase zuhalten, wenn sie unter Wasser getaucht würde, und schnauben wie ein Nilpferd, wenn sie wieder an die Oberfläche käme. Mom konnte manchmal wirklich lustig sein.
    Dafür war Grace dankbar - für jede Minute, in der ihre Mutter lachte.
    Und doch war heute etwas in Moms Augen gewesen, ein feines Glitzern nur - aber für Grace sehr greifbar. Es ging ihr nicht gut.
    Grace seufzte und schwang die Beine über den Rand. Sie hoffte, bald erwachsen zu sein und es gab viele Stunden, in denen sie sich auch so fühlte. Trotzdem war es wohl manchmal besser, jung zu bleiben. Liebe Güte, alle ihre Freunde wollten möglichst schnell dreißig Jahre oder älter sein. Grace fühlte sich im Grunde wohl so, wie sie war. War das unnatürlich? Einmal hatte sie mit Mom darüber

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