Der Totenwächter - Roman (German Edition)
die schrecklichsten Albträume hatte. Heute ist das vorbei. Irgendwie verlassen einen diese Träume mit den Jahren.«
»Sag mal ...« Grace stockte. Würde sie sich lächerlich machen? Sie riskierte es. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass - abgesehen von uns! - niemand in den Pool geht?«
Brad reckte seinen Kopf und betrachtete die anderen Gäste. Er nickte. »Du bist eine gute Beobachterin, Grace. Um ehrlich zu sein, aufgefallen ist mir das bisher noch nicht. Aber jetzt, wo du es sagst, ja! Es stimmt.« Er zuckte mit den Achseln. »Es sind halt alles Faulenzer.« Er schmunzelte. »Oder hast du eine andere Erklärung dafür?«
»Ist schon gut.« Grace winkte ab und streckte die Beine aus. Es war unglaublich. Obwohl der Februar erst begonnen hatte, knallte die Sonne unerbittlich auf sie herab. Sie bedeckte die ungeschützte Haut mit einem Handtuch. Ihr Gesicht lag im Schatten. Es war still. Totenstill. Kein Lüftchen regte sich. Kein Mensch redete. Jeder schien einen Weltrekord in Schweigsamkeit aufstellen zu wollen. Keine Menschenseele bewegte sich!
Sie sind alle groggy von der letzten Nacht, dachte Grace. Langsam fielen ihr die Augen zu. Sie döste. Neben ihr regte sich Brad.
Wie still es ist, dachte Grace erneut. So still, so, als sei man nicht auf einem ausgebuchten Schiff, sondern irgendwo weit entfernt auf einem einsamen warmen Planeten. Sogar das weiche Schwappen des Wassers, welches an den Schiffsrumpf wellte, klang gedämpfter und von weit her. Grace blinzelte unter ihren langen Wimpern hervor. Ihr Kopf drehte sich nach rechts. Die Liege war leer. Brad war nicht mehr da. Grace grinste. Er würde sich wohl um Mom kümmern. Na ja - warum auch nicht? Hatte der Schurke sich doch still und heimlich davongestohlen.
Grace sah über die Reling hinaus. Vier Meter von ihr entfernt hingen die Flaggen der Reiseveranstalter lahm in der Flaute. Irgendwo, weit entfernt am Ufer, trieb ein Bauer zwei Kamele durch einen Olivenhain.
Grace richtete sich auf die Ellenbogen. Es machte den Eindruck, als sei sie ganz alleine an Deck. Sie sah hinter sich. Ihr Blick tastete von Liegestuhl zu Liegestuhl. Junge und ältere Frauen. Junge und ältere Männer.
Sie waren alle da.
Jeder Einzelne.
Schwitzend und schweigend. Mit regungslosen Mündern und versteinerten Mienen.
Sie alle starrten Grace an.
7
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe, Ma’am.«
Linda hielt ihre Hände zum Angriff von sich gestreckt. Ihr gegenüber stand ein schmal gewachsener Mann. Er hatte streichholzkurz geschnittene schwarze Haare. Braune Augen dominierten ein ebenmäßiges Gesicht. Über den vollen Lippen trug er den für viele Ägypter obligatorischen Schnauzbart. Als er lächelte, funkelten zwei Reihen schneeweißer Zähne. Alles in allem sah es nicht so aus, als habe Linda vor ihm etwas zu befürchten.
»Ich hatte den Eindruck, Sie hätten einen Schwächeanfall. Ich wollte Sie festhalten«, entschuldigte der Mann sich.
Erst jetzt fiel Linda die schmucke Uniform auf.
»Verzeihen Sie, Ma’am.« Er verneigte sich altmodisch. »Mein Name ist Mareb el Akbar. Ich bin der Kapitän des Schiffes. Und ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.« Sein Englisch klang wie poliert und makellos.
»Ist in Ordnung«, winkte Linda ab. Unwillkürlich strich sie mit der Handfläche über den Stoff, dort, wo der Kapitän ihr seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Es geht mir gut.« Sie ahnte, dass der Schweiß, der ihr über das Gesicht lief, ihre Worte Lügen straften. Sie wollte irgendetwas Freundliches sagen. »Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch, Mr Akbar.«
»Ich habe in Los Angeles Nautik studiert. Es war eine gute Zeit. Amerika ist ein sehr interessantes Land. So vollkommen anders als Ägypten.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Kabine. »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Unterkunft?«
»Oh ja - es ist sehr schön hier«, stammelte Linda.
Der Kapitän trat an ihr vorbei, schob die Tür auf und machte eine einladende Geste. Als Erstes fiel Lindas Blick auf das Fenster. Wie sie vermutet hatte, war es unversehrt. Ebenso war die Kabine leer. Und was war mit dem Badezimmer? Sie trat ein und wie zufällig schob sie die Badezimmertür auf. Sie schaltete das Licht ein. Es war leer. Linda atmete erleichtert auf. Alles war in Ordnung. Ihre Nerven hatten ihr offensichtlich einen Streich gespielt. Es wurde Zeit, dass sie sich Richtung Deck aufmachte. Grace und Brad würden schon auf sie warten. Es war zu schade, den sonnigen Tag
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