Der Totenwächter - Roman (German Edition)
nicht befand? Wenn sie einem Hirngespinst aufgesessen war? Sie würde eine lange Nacht verbringen müssen. Alleine in der Kälte, halb wahnsinnig vor Angst um ihre Tochter. Sie würde auf den nächsten Tag und Busse der Reiseveranstalter warten müssen, ohne Grace helfen zu können.
Sie zerstreute ihre Zweifel.
Weibliche Intuition!, sagte sie sich und setzte sich in Bewegung. Es dauerte nicht mehr als fünf Minuten und sie stand vor einem Eingang, über dem ein Schild baumelte. Es warnte vor Einsturzgefahr und es war dasselbe, das auch heute Morgen dort gehangen hatte.
Linda ging die Stufen zur Tür hinunter. Eine Stahltür mit einem Schloss. Sie verharrte und blickte in den Himmel. Über ihr funkelten Meridian Sterne. Zu jeder anderen Gelegenheit wäre es ein wunderbarer Anblick gewesen. Der volle Mond stahl sich hinter einer seltsam geformten Wolke hervor. Er tauchte die Stätte in ein kaltes Licht. Felsformationen warfen harte Schatten. Der Wind säuselte geheimnisvoll zwischen den Relikten umher. Linda wurde sich bewusst, dass sie alleine war. Alleine in einer der mysteriösesten Ausgrabungsstätten der Weltgeschichte. Hier spukten die Geister seit viertausendfünfhundert Jahren. Hier hatten religiöse Zeremonien stattgefunden, unvorstellbare Schicksale hatten sich hier erfüllt. Dieses Tal war ein Friedhof. Und wer spazierte schon gerne nachts auf einem Friedhof? Kalte Finger kitzelten ihr Rückgrad.
Sie drückte die Klinke der Stahltür. Weich wie Butter schwang sie auf. Linda seufzte. Nun hatte sie den letzten Schritt gewagt. Es gab kein Zurück. Sie lauschte angestrengt. Was sie hörte, war der Wind und das Pochen ihres Herzen. Sie knirschte einen leisen Fluch. Sie war eine Närrin! Sie hatte vergessen, eine Laterne oder eine Taschenlampe mitzunehmen. Zitternd tastete sie nach einem Feuerzeug. Sie hatte Glück. Obwohl sie nicht rauchte, hatte sie ein Heftchen mit Streichhölzern bei sich. Sie hatte es gestern oder vorgestern in einem Souvenirgeschäft mitgenommen. Ein Werbegeschenk. Sie riss das erste Hölzchen an. Vergeblich. Die Streichhölzer waren nass geworden und nur unbefriedigend getrocknet. Sie versuchte es erneut. Zischend und Funken spritzend entzündete sich das nächste Holz. Sie hielt es von sich weg. Der Gang wölbte sich abwärts. An den Wänden schimmerten die ihr schon bekannten Zeichnungen und in den Fels gemeißelten Hieroglyphen. Dumpf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Linda machte einen Satz nach vorne. Sie ließ das Streichholz fallen. Dunkelheit! Ratsch!, machte es und tatsächlich tat auch das nächste Streichholz seinen Dienst. Lindas Finger bebten. Schnell suchte sie den Weg hinab ins Grab. Dort vorne war die Biegung, in der ihr der Vogelmensch begegnet war. Hier war sie bewusstlos geworden.
Der Vogelmensch!
Ba, hatte Akbar ihn genannt. Ba, der Geist eines Verstorbenen.
Nichts war zu sehen oder zu hören von Ba oder von irgendwem. Sie war alleine in einem Gang, der hinunter zu einer Grabkammer führte. Es war still. Ein leises Rascheln. Linda fuhr herum. Das Streichholz erlosch. Knistern. Mäuse? Es mussten Mäuse sein.
Wenn sie sie ihre Fantasie nicht zügelte und zu viel nachdachte, würde eiskalte Panik sie erfassen. Als Kind hatte sie sich hin und wieder gefürchtet, in dunkle Keller zu gehen und in langen Nächten hatte sie ihre nackten Füße immer unter die Bettdecke gezogen. Man konnte ja nie wissen, wer im Dunkel nach den ungeschützten Zehen greifen würde, nicht wahr? Sie hatte stets ein seltsames Gefühl gehabt, wenn sie alleine einsame Orte aufsuchte, und feuchte hallende Gemäuer hatten ihr schon immer einen Grusel den Rücken hinabgejagt. Dies war der Stoff, aus dem jene Filme gemacht waren, die sie nur dann mit Bernard angeschaut hatte, wenn sie ihr Gesicht schützend hinter einem Kissen hatte verstecken können. Es genügte, wenn sie mit einem Auge über den Kissenrand blinzelte, um die gruselige Handlung mitzuerleben.
Es mussten Mäuse sein! Himmel noch mal - was erwartete sie? Sie hatte sich auf ein unheimliches Abenteuer eingelassen. Und Mäuse waren vermutlich nicht das einzigen, denen sie heute noch entgegentreten würde. Was also sollte es? Sie war mitten drin in einem Film, den es eigentlich nicht geben durfte. Und sie hatte kein schützendes Kissen bei sich.
Sie fummelte ein neues Streichholz hervor. Es funktionierte nicht. Dann endlich fand sie eines, das trocken genug war. Schritt für Schritt ging sie abwärts. Sie erkannte alles wieder. Da
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