Der Totenwächter - Roman (German Edition)
vorne war die große Halle. Und wenn sie diese durchquerte, würde sie vor dem Eingang zur Grabkammer stehen. Dieser allerdings war eingestürzt.
Waren seitdem wirklich erst zwölf Stunden vergangen?
Linda konnte es kaum glauben. Zu unwirklich kam ihr alles vor.
Sie lauschte und blieb stehen. Unter ihren Füßen rollten kleine Steinchen. Jeder Laut schien ihr überdimensioniert verstärkt. Jeder Schritt hallte im Dunkel von den Wänden wider. Sonst hörte sie nichts. Keine Stimme. Keine Grace!
Machte sie sich lächerlich? Tapste sie hilflos hier herum, obwohl Grace ganz woanders zu suchen war? War alles vergeblich gewesen? Oder kam sie zu spät? Hatte Mamothma nicht auf sie gewartet? War die Zeremonie schon beendet? War Grace tot?
Tränen traten in Lindas Augen. Sie zog geräuschvoll ihre Nase hoch. Verdammt, sie würde nicht weinen! Nein! Sie würde sehen, was sie machen konnte! Sie würde nicht aufgeben!
Funken sprühten, als sie ein weiteres Streichholz entzündete. Sie schlich zum Eingang der Grabkammer. Vor ihr türmten sich Steine mannshoch auf. Der Eingang war verschlossen. Sie war in eine Sackgasse geraten. Falls dahinter etwas war, konnte sie es nicht erreichen. Umkehren war alles, was ihr blieb. Sie würde aufgeben. Den Eingang freizuräumen würde Tage dauern. Die meisten der Steine würde sie keine drei Zentimeter weit bewegen können. Und was um alles in der Welt, suchte sie dahinter? Welche fixe Idee hatte sich ihrer bemächtigt? Wie hatte sie annehmen können, ausgerechnet hier, in diesem Grab ...?
Es war, als habe jemand einen auf der anderen Seite der Steine angebrachten Scheinwerfer eingeschaltet. Durch die Lücken und Löcher, zwischen den Steinen hindurch, drangen hunderte feine Lichtstrahlen. Impulsiv ließ Linda sich fallen. Das Licht wirkte scharf gebündelt wie Laserstrahlen. War es bedrohlich? Über ihr streckten sich weiße Lichtlinien bis zur anderen Seite der Halle hin. Vorsichtig hob Linda eine Hand und ließ ihren Zeigefinger durch den Strahl gleiten. Es geschah nichts. Es war nicht mehr, als sehr, sehr helles Licht, das sich seinen Weg durch die Steine suchte. Also war doch etwas dahinter! Aber wie war es dorthin gekommen?
Und nun hörte Linda eine Stimme.
Es war Grace.
Und diese Stimme wimmerte in Todesangst.
ES WAR DIE STIMME VON GRACE!
Es war noch nicht zu spät.
Linda erhob sich vom Steinboden. Das Licht reflektierte von ihrem Körper. Es sah aus, als wolle es sie durchbohren. Das Wimmern von Grace klang wie der Hilferuf einer jungen Katze. Es war ein erstickter Laut, der aus der Grabkammer kam.
»Ich komme, Liebes. Ich komme und helfe dir!«, rief Linda spontan. Sie scherte sich nicht darum, ob der Feind sie hörte. Sie wollte in erster Linie ihre Tochter beruhigen.
»Mom!«, rief Grace von der anderen Seite der Steine. »Mom! Sei vorsichtig! Er ist - mächtig!«
Linda ersparte sich eine Antwort. Es galt, auf die andere Seite der Steine gelangen. Sonst wäre sie dazu verdammt, Ohrenzeuge einer grausigen Zeremonie zu werden, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Eine schreckliche Vorstellung. War es das, was Mamothma wollte? Hatte er darum auf sie gewartet? Hatte er deshalb gesagt, sie solle freiwillig kommen? Hatte er gewollt, dass eine Mutter den Tod ihrer eigenen Tochter mit anhören sollte? Das war pervers! Das war einer tiefen dunklen und bösen Seele würdig!
Doch wie sollte Linda die Steine fortbewegen? Wie sollte sie in die Grabkammer eindringen?
WIE WAR ES MAMOTHMA UND GRACE GELUNGEN?
Also gab es eine Möglichkeit. Mamothma mochte ein Geist sein. Grace war ein Mensch. Und Menschen können nicht durch Steinwände gehen ... oder?
Lindas Verstand arbeitete auf Hochtouren. Erneut wimmerte Grace. Ihr kleines Mädchen. Ihre liebste Tochter. Sie hatte Angst, große Angst. Und dieser Geist, der eine Dynastie des Grauens schaffen wollte, hielt sie in seiner Gewalt.
Verzweiflung stieg in Linda hoch. Es gab Dinge, die funktionierten einfach nicht. Und dazugehörte, in wenigen Minuten tonnenweise Geröll wegzuschaffen! Es war zum wahnsinnig werden. Mamothma hatte gewonnen!
22
Noch nie in ihrem Leben war Linda so zornig gewesen wie jetzt. Dieser Zorn mischte sich mit absoluter Hilflosigkeit und gebar ein ihr völlig fremdes Gefühl von Hass. Dieses Gefühl war negativ und zerstörerisch - und sie schämte sich dafür. Andererseits gab es ihr Kraft! Unglaubliche Kraft!
Sie stürzte vor und legte ihre Hand um den ersten Stein. Sie warf ihn
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