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Der träumende Diamant 2 - Erdmagie

Titel: Der träumende Diamant 2 - Erdmagie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shana Abé
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streicht. Wie das Meer.«
    Rues Gesichtsausdruck wurde wieder entspannter. »O ja, das höre ich auch manchmal …«
    »Wirklich?«
    »Wirklich. Die Natur spielt eine wunderbare Sinfonie für uns.«
    »Nein, nicht die Natur. Es ist ein Lied.«
    Rue legte ihre Fingerrücken auf die Stirn ihrer Tochter. Die Haut fühlte sich sehr kühl an. »Kannst du es summen?«
    »Nein.«
    »Bedrängt es dich? Schmerzt es in deinem Kopf?«
    »Nein …«
    »Es ist doch gar nicht wirklich da«, sagte Joan laut mit gelangweilter Stimme. »Wenn es wirklich da wäre, würden wir es doch alle hören. Wir können alles hören.«
    »Für deine Schwester ist es wirklich da«, erwiderte ihre Mutter mit fester Stimme und wandte den Blick wieder Lia zu. »Du musst es mir sagen, falls es einmal anfängt, dir zu schaffen zu machen. Komm zu mir, und ich werde mir etwas überlegen.«
    Lia richtete sich in ihrem Bett auf; ihre Augen waren weit aufgerissen und blickten höchst gespannt. Rue war machtvoll, die mächtigste Frau des Stammes, doch Lia hatte keine Ahnung gehabt, dass die Gaben ihrer Mutter so stark waren.
    »Wie denn, Mama?«

    »Nun, ich werde es mit Liebe verscheuchen, pass mal auf.« Und mit einem Lachen packte sie Lia an den Schultern und drückte Küsse, zart wie Rosenblüten, auf ihre Wangen.
    In diesem Augenblick wusste Amalia, dass auch ihre Mutter ihr nicht glaubte.
     
    Als einige Jahre später ihre Träume begannen, machte sich Lia nicht mehr die Mühe, irgendjemandem davon zu erzählen. Das Lied war bei aller Beharrlichkeit von einer gewissen Traurigkeit, und es war so wenig greifbar, dass es beinahe harmlos erschien. Aber in ihren blinden Träumen gab es nichts Harmloses. In ihnen war sie eine andere Person, sie war … älter. Es war sehr rätselhaft. Wenn sie aus ihnen erwachte, war ihr Gesicht gerötet, und sie war außer Atem, schuldig, aufgeregt und niedergeschlagen zugleich. Sie konnte diese Gefühle mit niemandem teilen, nicht einmal mit ihrer Mutter.
    Am Anfang waren es nur Bruchstücke, nur Stimmen und Sätze, die ohne Sinn aneinandergereiht zu sein schienen. Sie konnte lediglich die Stimme eines Mannes ausmachen, aber es war, als ob er weit von ihr entfernt war und durch einen Regenschauer hindurch zu ihr sprach. Sie fing nur Wortfetzen auf.
    Doch die Träume waren klarer geworden. Und eindeutiger. Und mit ihnen stieg das Gefühl der Gefahr; eine Warnung, die schwer auf ihre Brust drückte und dafür sorgte, dass sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten.
    Niemals geschah etwas wirklich Schreckliches in ihren blinden Träumen. Doch sie wusste, dass sie irgendetwas Entsetzliches zu bedeuten hatten. Sie sprach von Diebstahl und vom Töten und vom Verlust ihrer Eltern, als ob sie eine
Einkaufsliste für den Dorfmarkt vorlas. Sie tat nicht nur so. In dieser berauschenden, ersehnten Dunkelheit empfand Lia keinerlei Unrecht.
     
    Vor einigen Monaten, in den grauen Morgenstunden ihres vierzehnten Geburtstages, hatte der Traum ihr zum ersten Mal enthüllt, wer der Mann war.
    Zane. Zane, der Andere , Zane der Langfinger. Zane, der frühere Lehrling der Rauchdiebin selbst, der nun die gedungenen Hände und Augen und Ohren des Stammes in der wahren Welt war, der Welt jenseits von Darkfrith.
    Und heute Nacht hatte sie seine Kutsche verpasst, obwohl sie so schnell gerannt war, wie es in ihrem Reifrock und mit ihren hohen Schuhen möglich gewesen war. Als sie den Waldsaum hinter sich gelassen und auf dem Rasen vor dem Haus angekommen war, konnte sie nicht einmal mehr den gedämpften Schein der hinteren Kutschlaternen ausmachen. Nur das schwache Quietschen von Metall und Holz und das Klackern von Hufen verhallten in den Hügeln.
    Das war alles, was sie hörte - und das Lied. Schwach nur und gespenstisch und süß, so lockte es sie von den fernsten Streifen des östlichen Horizontes. Es lockte sie unablässig.
    Bewusst drehte sie der Richtung, aus der es ertönte, den Rücken zu. Es quälte sie bei Tag und bei Nacht; es suchte ihre Seele heim, und die Tatsache, dass niemand außer ihr es hörte, war etwas, über das Amalia nie gerne nachdachte.
    Gedankenverloren starrte sie auf die sonnenbeschienenen, hübschen Fenster von Chasen Manor, das sich vor dem Wald und dem Grün des Rasens wie ein vollkommenes Bild ländlichen Friedens abhob. Und sie blickte auf die Silhouetten
im Innern des Hauses, für die das Abendessen aufgetragen, die Nachtlager aufgeschlagen und das Abendfeuer geschürt wurde, und alles war so gewöhnlich, wie

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