Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
1768
In ihren Träumen war sie immer blind.
Zuerst umfing sie vollkommene Dunkelheit, welche sie umschmiegte wie ein weiches, ach so weiches Laken. Aber es war keine hoffnungslose oder verzweifelte Blindheit. Vielmehr war es so, dass sie ganz und gar natürlich erschien, denn in diesem Traum ging es niemals um das, was sie hätte sehen können, sondern um das, was sie zu hören vermochte.
»Lia .«
» Ja «, antwortete sie gewöhnlich.
Ein Mann sprach im Traum zu ihr. Die Stimme eines Mannes, die sie ebenso gut kannte wie das Fließen des Wassers über die Steine an ihrem liebsten Bachufer: geheimnisvoll und zugleich weich und vertraut.
» Lia «, sagte die Stimme, und es war ein Befehl.
» Ich bin hier .«
» Komm zu mir .«
Und das tat sie dann auch, denn in ihrem Traum gab es nichts, das sie lieber tun wollte, als dieser Stimme zu gehorchen. Nur darauf richtete sich ihr ganzes Streben.
» Erzähl mir vom heutigen Tag «, forderte der Mann sie auf, noch immer sehr sanft im Tonfall.
» Die Pfirsiche reifen. Der Weizen steht hüfthoch. Der Dartmoor-Rubin hat einen Käufer in Brüssel gefunden. Der will auch die Smaragde.«
»Gut.«
Und, oh, wie sie dieses eine Wort erfreute. Wie es durch sie hindurchströmte - wie von den Strahlen der Sonne erwärmter Honig, der sie mit seiner Süße erfüllte.
» Wo ist der Marquis?«, fragte der Mann.
»Kimber ist im Salon und erwartet dich.«
Dieser Teil war falsch. Selbst in ihrem Traum wusste Lia, dass er falsch war, denn Kimber war noch nicht der Marquis von Langford. Ihr Vater war der Marquis. Kimber war noch ein Junge. Aber das fiel dem Mann nicht auf.
» Und heute Abend, mein Herz?«, fragte der Mann, und seine Stimme liebkoste sie.
» Heute Abend findet die Abendgesellschaft der Havingtons statt. Die Vicomtesse wird Saphire und Seide tragen.«
Sie kannte niemanden namens Havington. Sie hatte keine Ahnung, woher sie von den Saphiren und der Seide wusste. Aber sie war sich sicher, dass es der Wahrheit entsprach.
» Was für Saphire?«
»Eine Halskette mit hundertzweiunddreißig Steinen, in Gold gefasst. Der Mittelstein ist rund, neunundzwanzig Karat, und er ist ringsum von Opalen umgeben. Ein Armband mit fünfunddreißig Steinen: zwanzig Saphire, fünfzehn Opale. Und eine Fußkette mit elf Saphiren, einundzwanzig Opalen …«
»Sehr gut. Das genügt .«
In ihrem Traum erfüllte sie erneut diese Süße.
»Und wann wird die Vicomtesse ihr Geschmeide ablegen, Lia?«
» Siebenunddreißig Minuten nach Mitternacht. Elf Minuten,
nachdem der letzte Gast gegangen ist. Die Halskette ist schwer«, fügte sie hinzu. » Und du wirst den zweiten Lakaien töten müssen. Er beobachtet dich, wenn du hinausgehst.«
Der Mann erwiderte nichts. Seine Anwesenheit durchschnitt die Dunkelheit um sie herum wie ein Prisma aus reiner, vibrierender Freude. Wie ein Lied. Wie eine Träumerei.
» Lia?«
»Ja?«
»Siebenunddreißig Minuten nach Mitternacht ist noch keine fortgeschrittene Stunde. Warte auf mich im Bett.«
»Ja, Zane«, antwortete sie wie stets, und dann erwachte sie.
Sie war noch nicht so weit.
Kim konnte erkennen, dass sie noch nicht so weit war, auch wenn sie alle die vorgeschriebenen fünfzehn Tage und sechzehn Nächte auf diese vollkommene Dämmerung im Juni gewartet hatten, in der weder Sonne noch Mond oder gar Sterne am Himmel standen. Der Himmel über ihnen war rauchgrau und von bläulichem Lila, eingerahmt von den Silhouetten der Eichen und Weiden, die die Lichtung, auf der sie zu fünft im Kreis standen, wie eine schwarze Kathedrale umschlossen.
Noch war Lias Gesicht zu erkennen, bleich, scharf und elfengleich geschnitten, und selbst in dem verblassenden Licht für ihn deutlich sichtbar. Sie teilte nicht die berühmte Schönheit ihrer Schwestern, und auch nicht den königlichen Gang Audreys oder das silberglockenhelle Lachen von Joan. Lady Amalia Langford war vierzehn Jahre alt, gleichermaßen ernst wie scheu und in jeder Hinsicht widersprüchlich:
Ihre Ellbogen stachen hervor, und sie war schlaksig, ihr Haar hatte die Farbe von Gold und Weizen, die dunklen Augen waren mandelförmig. Ihr Gesicht war beinahe gewöhnlich zu nennen, bis sie lachte. Selbst dann war sie nicht im eigentlichen Sinne schön. Er dachte, sie sei … nun ja … interessant.
Tatsächlich ähnelte Lia, trotz ihrer einflussreichen Abstammung, niemandem im Stamm. Sie war zu kantig, zu groß, zu dünn, und das war bei ihr schon als kleines Mädchen nicht anders
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