Der träumende Kameltreiber (German Edition)
Ihr schlaft ja manchmal mit zwei Touristinnen in einer Nacht! Und ja, ich trinke Alkohol, wie ihr auch.«
Samias Geschichte mit Europa kannte ein Einziger der Anwesenden. Sie ging so: Als sie achtzehn Jahre alt wurde, brach sie die Schule ab. Sie sah gut aus, wurde von vielen Männern begehrt und viele hielten um ihre Hand an. Doch sie wollte vom Heiraten nichts wissen. Ihre Eltern waren verzweifelt, als sie sagte, sie wolle in eine Touristikschule gehen. Es verschlug sie nach Sousse, in die Kinderanimation, nachdem sie einen zweijährigen Kurs absolviert hatte. Der Job gefiel ihr von Anfang an. Sie liebte Kinder, sie liebte Fremdsprachen und sie liebte andere Kulturen. Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sie verliebte sich in den Vater eines ihrer Animationskinder, einen Franzosen. Als sie sich einem der Anwesenden anvertraute, sagte sie:
»Was heißt verlieben, mein Gott, der Mann gefällt mir, sieht gut aus, ist großzügig, geistreich und redegewandt. Er ist geschieden.«
Als sie Jean-Claude näherkam und sie sich über ihre mögliche Zukunft unterhielten, sagte er ihr:
»Hör zu, Samia, ich bin beschnitten, seit Kindheit, und ich kann mit gutem Gewissen bezeugen, dass es keine andere Gottheit gibt als Gott und dass Mohamed sein Prophet ist. Damit wären die Bedingungen erfüllt, oder?«
Sie erzählte davon zu Hause und bekam nur Schelte und Unverständnis. »Aber Mutter, der Mann ist doch nichts anderes als Moslem, wenn er beschnitten ist und die Schahada ausspricht!«
»Nein«, war die Antwort, »er macht das nur, um dich herumzukriegen und wird später alles zurücknehmen!«
Das war vor drei Jahren gewesen. Seither hatte Samia trotz ihrer unendlichen Sehnsucht keinen Fuß ins elterliche Haus gesetzt. Gelegentlich rief sie an, um zu sagen, dass es ihr gut ginge. Und es ging ihr gut. Jean-Claude kam nun regelmäßig nach Port el Kantaoui und besaß eine kleine Wohnung in der Stadt. Sie sahen sich oft und genossen, was sie voneinander bekamen. Sie hatte keine Ahnung, wie das weitergehen sollte, ob sie eines Tages mit ihm durch brennen würde, ob sie vielleicht doch noch einen Cousin heiraten müsste, ob sie überhaupt etwas Ernsthaftes mit einem Mann anfangen sollte, denn Jean-Claude wusste von den vielen Männern, die ihr Avancen machten, und es belastete ihre Beziehung.
Hinter Ahmed stand ein kleines Zelt, das er Anfang Mai aufschlug und erst Ende Oktober wieder zu seiner Schwester in die Garage stellte. Neben dem Zelt standen zwei Dromedare, angebunden an je einem dicken Pfahl.
»Seid ihr alle bereit, Freunde? Seid ihr offenen Herzens und gläubigen Geistes für die Geschichte des Jahres zwischen einem arabischen Kameltreiber und einer christlichen Prinzessin, deren Haare wie Gold sind und deren Augen zwei Ozeane an Bläue übertreffen? Nun gut, es fing an, als mein lieber Vater starb …«
»Oh je«, rief Jamel leise, »wir kommen nicht vor dem Morgengrauen weg.«
»Es muss so weit hinten anfangen, damit alle verstehen, was und warum es passiert ist. Du kennst meine Geschichte, Jamel, wenn es dir zu langweilig wird, geh einfach. Das ist wie im Kino: Wenn man feststellt, dass man den Film schon mal gesehen hat, steht man auf und geht knurrend davon. Aber verlang kein Eintrittsgeld zurück, verstehst du? Also, kann ich jetzt endlich anfangen?
Es war, wie gesagt, vor vielen Jahren, als mein Vater plötzlich an einer schweren Krankheit starb. Er hinterließ mir die beiden Kamelstuten, die ihr hinter mir seht, eine Mutter und zwei Schwestern, die ich nun alle versorgen musste. Ich war zarte sechzehn Jahre alt, Freunde, also in einem Alter, wo ein Junge anfängt, nach seiner Zukünftigen Ausschau zu halten. Meine Zukunft sah nun ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte: Die Mutter hatte kein Einkommen, die Schwestern waren älter als ich und bereits versprochen, aber weit und breit war keine Mitgift in Sicht. Und die Kamelstuten fraßen mehr, als sie an Milch und Wolle einbrachten.
Ich schwöre euch, ich habe nächtelang geweint, aber nicht nur aus Trauer um meinen lieben Vater, sondern auch, weil ich diese Verantwortung auf meinen Schultern fühlte. Sie tat weh, sie drückte mich nieder: zwei Schwestern, die heiraten sollten, und eine Mutter, die ich versorgen musste. Über Nacht wurde ich erwachsen und einige Wochen später sah ich alt aus. Ich sah alt aus, weil ich nicht wusste, wie ich diese Last tragen sollte; sie drohte, mir den Rücken zu brechen. Eines Tages kam mein Freund
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