Der Trakt
Sicherheitsbeauftragter bei ihm habe. Die Aufgabe, die sich hinter dieser Stellenbeschreibung verbarg, bestand aus dem bedingungslosen Erfüllen von Aufträgen, die er ausschließlich vom Doktor bekam.
Hans richtete sich auf. Schräg gegenüber öffnete sich die Haustür, und die Polizisten kamen mit Jane heraus.
Einer der Männer hatte sie am Arm gepackt und dirigierte sie zu dem Wagen, mit dem die beiden gekommen waren. Jane sah verwirrt und ängstlich aus. Hans rieb sich mehrmals über das Gesicht und fuhr sich dann mit der flachen Hand über den Kopf mit den millimeterkurzen, blonden Haaren, so, wie er es immer getan hatte, wenn er das Képi blanc abgesetzt hatte.
Als sie losfuhren, wartete er noch einen Moment, bevor er den Motor startete und ihnen folgte.
7
Sibylle saß im Fond des Wagens, den Kommissar Wittschorek fuhr, und sah aus dem Seitenfenster. Letztlich hatte sie sich nicht dagegen gewehrt, als die beiden Polizisten sie aufgefordert hatten, mit ihnen zu kommen. Vielleicht war es sogar gut so und sie würden endlich Licht in diese furchtbare Situation bringen können. Johannes war zu Hause geblieben. Der Blick, mit dem er sie bedacht hatte, als sie, begleitet von den beiden Polizisten, aus dem Haus gegangen war, war hasserfüllt gewesen, aber im Moment war er ihr egal.
Von draußen starrten ihr die Betongesichter der Vorstadthäuser entgegen. Begleitet von Knacken und Rauschen hörte sie in unregelmäßigen Abständen Stimmen aus einem Lautsprecher irgendwo im vorderen Bereich des Wagens. Wie in weiter Ferne in einen Blecheimer gesprochen, unverständlich, nicht für ihre Ohren bestimmt. Die Häuserfronten verschwammen vor ihren Augen. Sie zog sich zurück aus der Welt, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr ihre Welt war. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um Lukas.
Sie sah ihn vor sich, er lag auf dem Boden des Wohnzimmers auf einer weichen Decke. Damals hatten sie noch im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses zur Miete gewohnt.
Sie hörte seine ungeduldigen Rufe, wenn er ein ums andere Mal versuchte, sich aufzurichten und dabei immer wieder auf den Hintern plumpste. Es war ihm nicht schnell genug gegangen mit dem Laufen. Es war ihm nie schnell genug gegangen. Wenn sie beim Füttern den Löffel nicht rechtzeitig mit Brei nachfüllte, tatschte er mit seinen kleinen, süßen Fingerchen danach und schimpfte heftig in seiner Babylautsprache mit ihr. Auch später, als er das Fahrradfahren lernte, ging es ihm immer zu langsam. Wie er weinen musste, als es nicht auf Anhieb funktionierte. Sie musste neben ihm herlaufen und ihn am Gepäckträger des kleinen Rades aufrecht halten, immer und immer wieder. Es wurde schon dunkel, als es endlich funktionierte und er alleine seine Runden drehen konnte.
Die Bilder verschwammen –
Lukas. Mein Lukas –
und machten Platz für eine andere Szene:
Unser Ausflug mit dem Schiff, damals, Lukas ist gerade erst drei, sitzt auf den Schultern seines Vaters und betrachtet mit offenem Mund die Uferkulisse. In der Mitte über dem Deck eine lange Leine, bunte Fähnchen gespannt, die im Fahrtwind tanzen. Mein Sohn …
Deutlich sah sie das Gesicht ihres Jungen, in dem diese ungetrübte, offene Bewunderung für die Welt geschrieben stand, wie sie nur Kinder zeigen konnten. Der Spot ihrer Erinnerung richtete sich auf den Mann, auf dessen Schultern Lukas saß, und sie erschrak. Dort, wo Hannes’ Augen, Nase und Mund hätten sein müssen, starrte ihr eine konturlose, ovale Fläche entgegen. Sie versuchte, in der Erinnerung Details zu erkennen, doch das Bild wurde immer undeutlicher, je mehr sie sich darauf konzentrierte. Und mit einem Mal – ganz verschwunden. Statt eines Bildes war da nur noch Schneerauschen.
Schneerauschen.
»Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«
Sibylle riss die Augen auf. Grohe hatte sich zu ihr umgedreht, während Wittschoreks Blick im Sekundentakt zwischen dem Rückspiegel und der Straße wechselte.
Sie hatte wohl laut aufgestöhnt. »Nein … Doch.«
Grohe sah sie unverwandt an, und sein Blick drückte dabei kein Wohlwollen aus.
»Bitte«, sagte sie flehend, »können Sie zu dem Krankenhaus in der Nähe des Ostentors fahren? Ich zeige Ihnen den Kellerraum, in dem ich eingesperrt war. Und diesen Dr. Muhlhaus … Mein Gott, wenn man verrückt ist und sich einbildet, jemand anderes zu sein, kann man sich doch nicht an jede Kleinigkeit aus diesem eingebildeten Leben erinnern. Und mein Sohn … Lukas … seine Geburt, die
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