Der Trakt
quetschte sich an Feith vorbei. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie die Stufen der beiden Treppen herunter. Die Schritte der anderen konnte sie hinter sich hören.
Unten blieb sie am Durchgang zu dem großen Kellerraum stehen und warf einen Blick hinein. Es sah noch genau so aus wie Stunden zuvor. Erleichtert zeigte sie über Kisten hinweg auf die geschlossene Tür gegenüber und sagte, an Grohe gewandt: »Dahinter ist ein kleiner Flur, der zu dem Raum führt, in dem die mich … – Jetzt werden Sie jedenfalls gleich sehen, dass ich nicht gelogen habe.«
Mit schnellen Schritten ging sie zwischen den Kisten hindurch, gefolgt von Feith und den beiden Polizisten. Auch diese Tür war nicht verschlossen, doch als Sibylle sie öffnete, hatte sie einen dunklen Gang vor sich. Sie stockte und sah sich hilfesuchend nach dem Hausmeister um. Der nickte und ging an ihr vorbei, gleich darauf flammten die Neonröhren an der Decke auf und tauchten den kurzen Flur wieder in dieses kalte Licht. Ihr fiel auf, dass die Tür auf der anderen Seite ungewöhnlich breit war, beinahe bedrohlich, wie das Auge eines Zyklopen.
»Da ist es«, sagte sie leise, machte aber keine Anstalten weiterzugehen.
Als sich auch einige Sekunden später noch niemand bewegt hatte, sagte Grohe mürrisch: »Wollen wir die Tür anstarren, oder schauen wir uns an, wo diese Dame angeblich eingesperrt war?«
Heiko Feith kam der Aufforderung nach, ging auf die Tür zu, drehte an dem vergammelten Messingknopf, der auf dieser Seite als Griff über dem Schloss angebracht war, und drückte dann gegen die Tür. Sie ließ sich öffnen.
Sibylle merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Es war gut möglich, dass der falsche Dr. Muhlhaus noch dort drinnen war.
Vielleicht ist er noch besinnungslos. Oder sogar …
»Na also, wie ich es mir gedacht habe«, unterbrach Grohe ihre Gedanken. Er war an ihr vorbei als Erster in den Raum gegangen, nachdem Feith einen Lichtschalter betätigt hatte. Beim Anblick der wenigen Kisten, die in dem ansonsten leeren Raum herumstanden, verließen Sibylle vollends ihre Kräfte.
Das – kann – nicht – sein.
Grohe stand dicht vor ihr und sah ihr in die Augen. »Wenn Ihnen nicht bald eine außergewöhnlich gute Erklärung für das alles einfällt, sehe ich für Ihre nähere Zukunft nur zwei Optionen: eine Zelle im Gefängnis oder eine in der Psychiatrie.«
Sibylle ließ sich mit dem Rücken einfach gegen die kahle Wand fallen und starrte wortlos vor sich hin, während Wittschorek langsam zwischen den Kisten hindurchschritt und ab und zu in die Hocke ging und den Boden betrachtete, als suche er nach Spuren an einem Tatort.
»Wann waren Sie denn zuletzt hier unten, Herr Feith?«, hörte sie den Kommissar fragen. Der Hausmeister überlegte. »Hm … Das muss schon zwei oder drei Monate her sein. Hier kommt nicht oft jemand her.«
»Wer hat sonst noch Zugang zu dem Raum?«
»Na, jeder. Die Tür ist von außen nie abgeschlossen. Nur wenn man da drin ist und hat keinen Schlüssel, dann sollte man aufpassen, dass die Tür nicht zufällt.« Er grinste breit. »Wenn wir länger hier bleiben, sollten wir eine Kiste vor die Tür stellen. Der Schlüssel hängt oben in meinem Büro im Schlüsselkasten.«
Sibylle erwachte aus ihrer Starre.
Ich hab nicht gelogen. Verdammt, ich hab nicht –
Ohne darüber nachzudenken stieß sie sich von der Wand ab. Sie warf Wittschorek einen schnellen Blick zu und sah in seinem Gesicht, dass ihm genau im selben Moment wie ihr selbst klar wurde, was sie vorhatte. Aber entweder glaubte er, zu weit von der Tür weg zu stehen, um noch etwas tun zu können, oder er sah bewusst reglos zu, wie sie sich abwandte und mit zwei großen Schritten im Flur stand. Der überraschte Ausruf Grohes ging in dem Knall unter, mit dem die Tür ins Schloss fiel.
Schnell atmend wandte Sibylle sich ab und flüchtete zum zweiten Mal an diesem Tag aus dem Krankenhauskeller.
Nachdem sie einigen Gängen und Abzweigungen gefolgt war, von denen sie glaubte, dass sie sie kurz zuvor in die andere Richtung benutzt hatten, hatte sie sich verlaufen. Die dicken Rohre und Kabelstränge, die an der Decke direkt über ihrem Kopf verliefen, waren ihr auf dem Hinweg nicht aufgefallen. Während sie den Gang entlang weiterlief und dann ohne lange darüber nachzudenken nach rechts abbog, fiel ihr ein, was der Arzt oben in der Eingangshalle gesagt hatte: ›Was möchten Sie sehen? Die Pathologie oder den Leichenkeller?‹
Keine Panik,
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